Un Air de Famille

Tragikomödie | Frankreich 1996 | 110 Minuten

Regie: Cédric Klapisch

Die Feier einer gutsituierten Familie entwickelt sich zu einer chaotischen Bestandsaufnahme, in deren Verlauf Defizite, Wünsche, Hoffnungen und Ängste zutage treten. Das vordergründig heile Miteinander zeigt Risse und Gräben, deren Ursprung in die Kindheit zurückreicht, und die nur in einem schmerzhaften Kommunikationsprozeß überwunden werden können. Eine auf einem Theaterstück basierende traurige Komödie, die die Einheit von Raum und Zeit wahrt und kameratechnisch eindrucksvoll die Seelenlage ihrer Protagonisten spiegelt. Dabei wird nicht nur mit der familiären Vergangenheit abgerechnet, sondern den Personen auch die Hoffnung auf eine bessere Zukunft eingeräumt. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
UN AIR DE FAMILLE
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
1996
Produktionsfirma
Charles Gassot/Téléma/Le Studio Canal +/France 2 Cinéma/Canal +/Cofimage 7
Regie
Cédric Klapisch
Buch
Jean-Pierre Bacri · Agnès Jaoui
Kamera
Benoît Delhomme
Musik
Philippe Eidel
Schnitt
Francine Sandberg
Darsteller
Jean-Pierre Bacri (Henri) · Jean-Pierre Darroussin (Denis) · Catherine Frot (Yolande) · Agnès Jaoui (Betty) · Claire Maurier (Mutter)
Länge
110 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Tragikomödie
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Diskussion
Freitagabend in der Kneipe „Au Père Tranquille“: Der gemeinsame Abend der Familie Menard scheint seinen gewohnten Lauf zu nehmen. Henri, der Wirt und Erstgeborene, trägt seinen Freitags-Pulli und harrt der Dinge, die da kommen werden, Betty, das 30jährige Nesthäkchen, kippt gegen den Frust einige Drinks, Kellner Denis hat wie üblich wenig zu tun und liest, während in der Ecke der alte, bewegungsunfähige Hund liegt. Und natürlich ist da die klapprige Musik-Box, die immer an den spannendsten Stellen – Patty Smith singt gerade von der Power, mit der Menschen ihre mißliche Situation ändern können – ihren Geist aufgibt. Alles könnte so sein wie gewohnt, und doch steht ein außergewöhnlicher Freitag ins Haus: Betty kündigt Denis aus heiterem Himmel die Verlobung auf; Arlette, die Frau des Wirts, bleibt unauffindbar, ruft aber später an, um eine Woche Ehe-Bedenkzeit einzufordern; Yolande, genannt Yoyo, hat Geburtstag, und Philippe, der Vorzeige-Sohn, hat sein erstes Fernseh-Interview hinter sich, in dem er – mehr schlecht als recht – den High-Tech-Standort Frankreich beschwor.

Um diesen Auftritt dreht sich zunächst alles, doch dann brechen die kleinen und großen Alltagsprobleme hervor, schleichen sich, zunächst unmerklich, in den „gemütlichen“ Familienabend die Animositäten ein, keimen und verströmen ihr (vielleicht heilsames) Gift. Philippe wird als unsicherer Kandidat enttarnt, der Selbstsicherheit nur vortäuscht und seinen Frust an seiner Frau abreagiert; Mutter Menard gefällt sich in der Rolle der „grand dame“, und Yoyo gebärdet sich als zickiges Frauchen, das dann aber im Lauf der Handlung Profil und Sympathiepunkte gewinnt. Bleiben noch Betty, die als Katalysator fungiert und nach Jahren endlich den Mut findet, der Mutter und dem überheblichen Philippe die Meinung zu sagen; Henri, der als Versager in der Familie stets gedeckelt wurde und nun glaubt, vor den Scherben seines bescheidenen Lebens zu stehen; und Denis, der Kellner, auch er waidwund und liebesgeschädigt. Doch er wächst in die Rolle des guten, helfenden Menschen hinein, erteilt nicht nur lebenskluge Ratschläge, sondern tritt auch handgreiflich für seinen Chef ein; er rettet seine Verlobung und macht im Lauf des Abends der so oft gedemütigten Yoyo das schönste Geburtstagsgeschenk, indem er mit ihr ausgelassen zu Patty Smith’ „People have the Power“ tanzt.

Seine Herkunft vom Theater kann und will „Un Air de Famille“ nicht verleugnen. Die Inszenierung beugt sich vorbehaltlos dem dramaturgischen Diktat von Raum und Zeit, wartet mit nur wenigen, dafür äußerst sinnvoll geplanten Außenaufnahmen auf. Totalen am Anfang des Films fangen die allgemeine Tristesse ein: Ein Mopedfahrer rast wie in Bill Forsyths „Local Hero“ (fd 24 263) durch den Ort und weiß wohl als einziger, wo er hin will; wenn Philippe besonders fies wird, geht er mit Yoyo vor die Tür, weil sehr häßliche Streitereien auch in der Familie unter vier Augen ausgetragen werden; irgendwann rennt auch Henri vor die Tür, ruft den Namen seiner Frau unter dem Schlafzimmerfenster seines Nebenbuhlers und erhält Beistand von Jugendlichen, die seinen Mut und seine Offenheit zu würdigen wissen. Ansonsten konzentriert sich der Film auf Henris Kneipe, die nicht von ungefähr „Au Père Tranquille“ heißt, was in diesem Zusammenhang auch als „Zum friedfertigen Vater“ interpretiert werden darf, dem der arme Henri mit allen Fasern seines Herzens nacheifert. Für Mama und Philippe war der Vater der eigentliche Versager, für Henri der fürsorgliche Halt, der sein Leben beeinflußt hat. Dies belegen Rückblenden, die Henris Kindheit Revue passieren lassen – immer wieder dieselbe Situation: die drei Geschwister am Morgen im Bett bei den Eltern. Die Farben spiegeln Wärme und Geborgenheit. Bei der letzten Rückblende allerdings setzt es Schläge vom friedfertigen Vater, ein Lebensweg ist vorprogrammiert – Liebe ist ein besonderes Gut, das man sich nicht verdienen kann.

Klapisch hat mit minimalistischen Mitteln einen großen kleinen Film geschaffen, der nicht nur familiäre Befindlichkeiten spiegelt, sondern auch die Stimmungslage einer Nation, die Ventile gegen die vielen Mißstände in allgemeiner Verdrossenheit sucht. Angst um den Arbeitsplatz und Integrationsprobleme kommen ebenso zum Ausdruck wie das Ringen ums private Glück, das im Dauerstreit kulminiert. Kameratechnisch bleibt die Inszenierung bei den vorgegebenen Leisten, arbeitet mit Restlicht und weiß Großaufnahmen eindrucksvoll zu einem optischen Reigen zu ordnen. Ein bezaubernder Film, der nicht nur Cineasten in seinen Bann schlagen wird. Besonders nimmt dabei ein, daß Klapisch nicht in Selbstgefälligkeit und Weltschmerz verfällt, sondern seine kleine (vielleicht typisch französische) Geschichte mit viel Witz und bitterer Ironie erzählt: als traurige Komödie, die keine großartigen Perspektiven entwirft, ihren Protagonisten jedoch kleine Chancen offenhält. Dabei macht Klapisch keinen Hehl daraus, wem seine Sympathien gehören: Betty und Henri, der lernt, über seinen Schatten zu springen, und natürlich Denis, der fast ätherische gute Geist, der so fürsorglich ist, daß er eigentlich nur dem Kino entstiegen sein kann. Ein Kinoheld, wie man ihn sich auch im richtigen Leben wünschen würde. Auch Yoyo zählt zu den Gewinnern, die am Ende des chaotischen Abends Henri sagt, daß sein Gänsebraten großartig geschmeckt hat. So einfach können manchmal komplizierte Dinge sein.
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