- | Schweiz/Deutschland/Frankreich 1998 | 124 Minuten

Regie: Fredi M. Murer

In einer Vollmondnacht verschwinden zwölf Kinder aus allen Landesteilen der Schweiz. In einem Brief an die Eltern fordern sie "Wir wollen die Erde auf Erden" und stellen den Eltern eine Frist bis zur nächsten Vollmondnacht. Die utopische Parabel versucht eine Bestandsaufnahme der Schweizer Gesellschaft und des Zustands der Welt am Ende des Jahrtausends. In nüchternem Erzählstil, der von lakonischem Humor und poetischen Elementen durchsetzt ist, entwickelt der Film seine Variation des Rattenfänger- und Arche-Noah-Motivs. Trotz gelungener Momente kann er letztlich aber nicht überzeugen, weil er mit Figuren und Themen allzu überfrachtet ist. - Ab 12.
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Filmdaten

Originaltitel
VOLLMOND | PLEINE LUNE
Produktionsland
Schweiz/Deutschland/Frankreich
Produktionsjahr
1998
Produktionsfirma
T&C/Pandora/Arena
Regie
Fredi M. Murer
Buch
Fredi M. Murer
Kamera
Pio Corradi
Musik
Mario Beretta
Schnitt
Loredana Cristelli
Darsteller
Hanspeter Müller (Anatol Wasser) · Lilo Baur (Irene Escher) · Benedict Freitag (Max Escher) · Mariebelle Kuhn (Emmi) · Joseph Scheidegger (Oskar Fürst)
Länge
124 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 12.
Externe Links
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Diskussion
Am Anfang sieht alles noch wie ein alltägliches Ereignis aus: Ein kleiner Junge, Toni Escher, ist spurlos verschwunden. Die getrennt lebenden, wohl situierten Eltern – er ist Nuklearphysiker, sie Unterwasser-Archäologin – treibt die Frage um, ob er nur weggelaufen oder gar entführt worden ist. Als der Züricher Kommissar Wasser sich in den Fall einschaltet, macht er eine beunruhigende Entdeckung: In der Vollmondnacht am 28. Mai 1998 sind insgesamt zwölf Kinder im Alter von zehn Jahren verschwunden und zwar aus allen Teilen der Schweiz. Geheimnisvolle Zeichen tauchen auf. Das Plakat eines dunkelhäutigen Jungen in einem Boot, der am Kiel stehend mit der Hand vor den Augen Ausschau hält, findet sich in allen Kinderzimmern. Seltsame Gebilde aus Brettern finden sich später an verschiedenen Orten. Wasser treibt die Fahndungen voran und entwickelt dabei eine intensivere Beziehung zu Irene Escher. Eine neue rätselhafte Wendung ergibt sich, als alle Familien Briefe von ihren Kindern erhalten: Wir wollen die Erde auf Erden, verlangen die Kinder, sonst werde sich die Erde ohne sie weiterdrehen. Bis zum nächsten Vollmond bleibt den Eltern eine Frist, ein Zeichen zu setzen. Die Ereignisse eskalieren, als sich die sensationshungrigen Reporter des Privatsenders „Live TV“ einschalten. Irene Escher versucht, die Mütter, die alle von ihren Kindern träumen, zu einer gemeinsamen Aktion zusammenzubringen. Kommissar Wasser erkennt zunehmend, dass der Fall nicht mit strikter Rationalität zu behandeln ist. Er quittiert seinen Dienst und setzt zusammen mit Irene Escher bei „Live TV“ durch, dass die Eltern sich in einer Sendung direkt an die Kinder wenden können. Doch statt ihren Willen zur Änderung zu demonstrieren, legen die Eltern nur ihre Unfähigkeit zur Konfliktbewältigung offen. In der nächsten Vollmondnacht verschwinden zwölf mal zwölf Kinder.

Fredi M. Murer, einer der interessantesten Regisseure des Schweizer Films, hat 13 Jahre nach seinem Meisterwerk „Höhenfeuer“ (fd 25 487) wieder einen Spielfilm vorgelegt. Lag die Stärke von „Höhenfeuer“ in der Reduktion auf wenige Figuren, versucht er sich in „Vollmond“ an der inzwischen weit verbreiteten Form eines Ensemblefilms mit zahlreichen Parallelgeschichten. Murer, der sich zu seiner „sprichwörtlichen Langsamkeit“ bekennt, hat in Interviews die lange Entstehungsgeschichte des Films ausführlich erläutert. Die ersten Impulse gab der Reaktorunfall in Tschernobyl 1986. Seine kleine Tochter habe ihn damals beauftragt, einen Film über die „Gefährlichkeit der Erwachsenen“ zu drehen, sagt Murer. Es entstand ein Doppel-Spielfilmprojekt mit dem Arbeitstitel „Zwei Mal die ganze Wahrheit“. Die Geschichte sollte in zwei Versionen gedreht werden, einmal aus der Sicht der Erwachsenen, einmal aus der Sicht der Kinder. Aus finanziellen Gründen schrumpfte das Projekt zu einem einzigen Film, dem man ansieht, dass er in mancher Hinsicht fragmentarisch ist. „Vollmond“ ist als utopische Parabel konzipiert, dabei zugleich eine (im Ansatz dokumentarische) Bestandsaufnahme der Schweizer Gesellschaft und des Zustands der Menschheit am Ende des Jahrtausends. Die Geschichte der Kinder, die von einem geheimnisvollen Führer, dem dunkelhäutigen Jungen Omm, in eine Gegenwelt der Fantasie geführt werden, was eine Bestrafung der Eltern gleichkommt, variiert das Rattenfänger-Motiv und spielt auch auf die Arche Noah an, deutlich vor allem an den geheimnisvollen Holzbrettern, das Baumaterial für eine Arche. Als ein „Plädoyer für weniger Logik und mehr Fantasie“ (Murer) hat der Film durchaus seine überzeugenden Momente; die nüchterne, von lakonischem Humor durchsetzte Erzählhaltung, die poetischen Elemente, die geheimnisvollen Andeutungen und Hinweise tun dem Film gut. Die Überfrachtung mit Themen wie Ökologie, Ethik, Religion, Rassismus und Medienkritik kann der Film jedoch kaum verkraften. Und immer dann, wenn Murer nicht auf Bilder setzt, sondern das Anliegen in Dialoge packt, werden allzu einfache Erklärungsmuster deutlich. Ein typisches Beispiel ist das Gespräch Wassers mit Irene: Die Probleme, erklärt er ihr, seien nur darauf zurückzuführen, dass die Männer daran leiden, nicht gebären zu können und sie deshalb die Natur hassen und zerstören. Fragmentarisch und oft schematisch bleibt die Konstruktion der Erwachsenenwelt. Murer will einen Querschnitt durch die Bevölkerung, durch Berufe und Lebensbereiche vorstellen, aber dies gelingt nur unvollkommen, er präsentiert mehr Typen als lebensechte Charaktere. Am meisten überzeugt im Ensemble noch Hanspeter Müller als sensibler Kommissar, der im Film eine Art Stellvertreter des Regisseurs ist, ein Erwachsener, der die visionären Fähigkeiten der Kinder nicht verloren hat. Man bedauert, dass die Vision des Regisseurs von seinem Projekt letztlich spannender ist als deren konkrete Umsetzung auf der Leinwand.
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