Die historisch verbürgten Ereignisse, von denen „Amistad“ berichtet, sind eine Randepisode in der bewegten Geschichte der damals noch jungen Vereinigten Staaten. Ein Plagiatsprozeß, der um ein Haar die Premiere des Films verhindert hätte, brachte zwar ans Tageslicht, daß der Aufstand auf dem spanischen Sklavenschiff „La Amistad“ bereits Gegenstand eines 1989 publizierten Romans war (Barbara Chase-Riboud: „Echo of Lions“), doch in landläufigen Geschichtsbüchern wird man ihn vergeblich suchen. Selbst in dem hervorragenden, kürzlich erschienenen Buch „The Slave Trade“ von Lord Hugh Thomas, das sicher bald zum Standardwerk über den Sklavenhandel avancieren wird, finden die Amistad-Vorgänge keine Erwähnung. Doch Thomas hat dem Film inzwischen (in einem Beitrag für das „Wall Street Journal“) bescheinigt, daß dessen Handlung – abgesehen von einigen internationalen Bezügen – den historischen Tatsachen entspricht. Gerade weil man derartig penible Faktentreue von einem Kinofilm gar nicht notwendig verlangen müßte, legt Spielbergs Gewissenhaftigkeit im Umgang mit der Vergangenheit Zeugnis davon ab, mit wieviel Ernst und Verantwortungsbewußtsein er inzwischen vorgeht, wenn er sich mit einem solchen Thema befaßt. Auch stilistisch hat Spielberg die kitschige Melodramatik weit hinter sich gelassen, mit der er einst Sujets wie „Die Farbe Lila“
(fd 25 656) und „Das Reich der Sonne“
(fd 26 701) behandelt hat. Seit seinem Holocaust-Film „Schindlers Liste“
(fd 30 663) scheint man es immer mal wieder mit einem Steven Spielberg zu tun zu bekommen, der das Bedürfnis verspürt, die ewig jugendliche Fantasiewelt seiner kassenträchtigen Abenteuergeschichten hinter sich zu lassen, um sich mit gewichtigen, bis in unsere Tage fortwirkenden Ereignissen zu beschäftigen, die mehr in ihm – und im Zuschauer – herausfordern als die unbeschwerte Freude am Fabulieren.„Amistad“ besitzt eine Reihe von Querverbindungen zu „Schindlers Liste“. Beide sind Filme über Unrecht und Leid, das Menschen über andere Menschen gebracht haben, Filme über eine untilgbare, von Generation zu Generation sich forterbende Schuld und – mit den Worten, die der amerikanische Präsident John Quincy Adams in „Amistad“ verwendet – über die tiefste Natur des Menschen. Wie aus abgründigen Bewußtseinsschichten scheinen die ersten Bilder von „Amistad“ albtraumhaft ans Licht zu drängen: schmerzverzerrte Augen, blutende Finger, rinnender Schweiß, ein Nagel, der langsam aus dem Boden gelöst wird – das garstige Vorspiel zur blutigen Befreiung von den Peinigern. Es sind Schwarze aus der britischen Kolonie Sierra Leone, die 1839 das spanische Sklavenschiff „La Amistad“ in ihre Gewalt bringen. Brutaler als Vieh sind sie aus ihren Heimatdörfern verschleppt, in Havanna als Sklaven verkauft und auf die „Amistad“ zur Verschiffung an ihren Bestimmungsort gezerrt worden. Ziel der „Rebellen“ ist die Rückkehr in ihre afrikanische Heimat; doch der Seefahrt unkundig und von zwei Weißen in die Irre geleitet, gelangen sie an die Küste von Connecticut, wo sie ins Gefängnis geworfen und vor Gericht gestellt werden. Die Prozesse müssen sie über sich ergehen lassen, die Sprache nicht verstehend, in der über ihr Schicksal verhandelt wird, und die Endlosigkeit der immer neuen Verfahren nicht begreifend, in die sie durch Formalismus und einen um seine Wiederwahl besorgten Präsidenten verstrickt werden. In den ersten beiden Prozessen ist es ein ehrgeiziger, aber aufrichtiger junger Immobilien-Anwalt, der sie vertritt. In der höchsten Instanz vermag er sich des ehemaligen Präsidenten John Quincy Adams zu versichern, der sich von seinen Kongreßgeschäften weglocken läßt und nicht nur das Gewicht seiner Person, sondern auch das Gewicht seiner Argumente in den Dienst der Sache stellt. Die Schwarzen kommen frei und werden auf Staatskosten nach Afrika zurückgebracht. Doch auch dieses Ende ist ein bitteres: Freigesprochen wurden sie nicht aus humanitären Gründen, sondern wegen einer juristischen Spitzfindigkeit. Ihre Familien finden die Geschundenen im Bürgerkrieg ihres Heimatlandes nicht mehr vor, und die spanische Königin Isabella II. läßt die Sache nicht ruhen, sondern versucht ihre Interessen bei nicht weniger als sieben amerikanischen Präsidenten durchzusetzen.Spielberg rückt einen der Afrikaner in den Mittelpunkt, einen hünenhaften Schwarzen namens Cinque. Damit gibt er dem Publikum eine Identifikationsfigur. Das namenlose Unrecht wird zur Leidensgeschichte dieses Mannes, dem weder sein Stolz noch seine Stärke gegen die Übermacht der Gewalt zu helfen vermögen. Diesem dramaturgischen Kunstgriff verdankt der Film seine bewegendsten und eindrucksvollsten Szenen. Das Ausgeliefertsein eines selbstbewußten, intelligenten Mannes an eine ihm unbegreifliche Kultur reduziert deren Repräsentanten und Errungenschaften – Anwälte, Richter und Gesetze – zu Insignien eines selbstgefälligen, funktionalistischen Systems, in dem für den Betroffenen mehr der Eigennutz als das Recht ihren Platz gefunden haben. Geschickt kontrastiert Spielberg den „Rechtsstaat“ der Weißen mit dem himmelschreienden Unrecht, das den Schwarzen seit ihrer gewaltsamen Entführung widerfahren ist. In das Prozeßgeschehen baut er zum Beispiel eine lange Sequenz ein, in der er die Torturen vorführt, denen Schwarze auf ihrer erzwungenen Atlantik-Überquerung ausgesetzt waren: Auspeitschungen, Gewaltakte und schließlich massenweises Ertränken der Sklaven, als der Proviant zu Ende zu gehen droht. An der üppig gedeckten Tafel des amtierenden Präsidenten Van Buren argumentiert unterdessen der Vertreter der Südstaaten für die Rechtmäßigkeit und Notwendigkeit des Sklavenhandels. Es ist manchmal ein grobes Raster, das Spielberg anlegt, bis hin zur regelrechten Karikatur (die jugendliche spanische Königin), doch im Kontext der auf Filmlänge zusammengepreßten Ereignisse bedarf es vielleicht solcher Zuspitzungen, um die horrende Situation in ein klares Licht zu rücken.Wie sehr sich Spielberg den historischen Vorgängen verpflichtet fühlt, zeigt sich nicht zuletzt an der kommerzfeindlichen Mehrsprachigkeit des Films. Die Isolation der Schwarzen in einer ihnen völlig fremden Umwelt manifestiert sich am deutlichsten an der ihnen aufgezwungenen Sprachlosigkeit. Bis schließlich nach mühevoller Suche ein Dolmetscher gefunden wird, kann sich der Anwalt nicht mit den Angeklagten verständigen, und diese wiederum verstehen kein Wort von dem, was um sie herum vorgeht. Mit seinen Untertiteln unter den Konversationen der Schwarzen und mit den hilflosen Blicken und Gesten bei jedem Kommunikationsversuch der beiden sich so unendlich fernen Welten demonstriert der Film auffälliger als durch alle dramatischen Geschehnisse die Unvereinbarkeit des Denkens und Handelns. Andererseits wäre Spielberg nicht Spielberg, würde er nicht auch in einem noch so auf historische Treue bedachten Film zu Mitteln des Hollywood-Kinos greifen, die er wie kein Zweiter mit solcher Perfektion beherrscht. Den Ex-Präsidenten John Quincy Adams führt er mit allen Effekten einer absonderlichen mythischen Figur ein, und Anthony Hopkins kostet bis zum dramatischen Schlußplädoyer jede Kleinigkeit des schillernden Charakters aus. An einem der Prozeßhöhepunkte exponiert er Cinque in emotionaler Großaufnahme und mit raumfüllender Chorbegleitung als personifiziertes Symbol widerfahrener Ungerechtigkeit. Solche und ähnliche Zugeständnisse an den Massengeschmack sind fragwürdig, aber publikumswirksam. Und Spielberg weiß seit „Schindlers Liste“, daß er eine unpopuläre Story, in der es mehr um Humanität als um Action geht, nur an ein Millionenpublikum herantragen kann, wenn er gelegentlich mit den Kunstgriffen aufwartet, für die er berühmt geworden ist. Deshalb auch wählt er vermutlich immer wieder John Williams als Komponisten, obgleich der selbst aus Konzentrationslager und Sklavenhandel nichts als große Oper zu machen versteht.Daß sich trotz solcher Effekte schon in „Schindlers Liste“ das Plädoyer für eine menschliche und menschenwürdige Gesellschaft behauptet hat und daß gleiches auch jetzt wieder der Fall ist, hat seinen Hauptgrund wahrscheinlich in der spürbaren Engagiertheit und Ehrlichkeit, mit der Spielberg diese Sujets angeht. Abermals wiederholt sich der Eindruck, daß sich Spielberg mit Filmen wie „Schindlers Liste“ und „Amistad“ auf einer Art Mission zu befinden scheint, als ob er sich verpflichtet fühle, seinem Publikum, das „Indiana Jones“ und „Jurassic Park“ zugejubelt und ihn zu einem der reichsten Männer der Welt gemacht hat, etwas zurückzugeben; als ob er auf seine Weise dazu beitragen wolle, daß die Welt ein lebenswerterer Platz werde. Jedenfalls besitzt das heutige Hollywood keinen anderen Regisseur von Rang, der so offenkundig mit ganzem Herzen bei der Sache ist, wenn es darum geht, dem Publikum zu zeigen, wie wichtig es ist, Mensch zu sein. Die meisten Filmemacher scheinen – im Gegensatz zu Spielberg – längst nicht mehr zu wissen, was das überhaupt bedeutet.