Wittstock, Wittstock

- | Deutschland 1997 | 117 Minuten

Regie: Volker Koepp

Mit "Wittstock, Wittstock" beendet Volker Koepp seine sich über mehr als 20 Jahre erstreckenden filmischen Beobachtungen vom Leben in der märkischen Kleinstadt Wittstock an der Dose, und wie es sich in der neuen Bundesrepublik Deutschland wandelte. Noch einmal begegnet man den Textilarbeiterinnen des einstigen VEB Obertrikotagenbetriebes "Ernst Lück", die zwar inzwischen Arbeit und gesellschaftliche Anerkennung, nicht aber ihr Selbstwertgefühl und ihre Sicherheit verloren haben. Ein besinnlicher, anrührend poetischer Dokumentarfilm, der Lebensläufe in der Schwebe ohne jeden Anflug von Resignation einfängt. - Sehenswert ab 12.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
1997
Produktionsfirma
Kruschke Film- und Videoprod.
Regie
Volker Koepp
Buch
Volker Koepp
Kamera
Christian Lehmann
Schnitt
Angelika Arnold
Länge
117 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 12.
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Diskussion
Der Schluß des Films hat symbolische und zugleich ironische Qualität: Das Spiel mit Bildmetaphern beginnt in der großen, nun ganz leeren Halle, in der einmal die Maschinen des Obertrikotagenwerkes Ernst Lück standen. Ihr Lärm ist verstummt, die Halle verödet. Elsbeth und Renate, die beiden "Stars" der "Wittstock"-Filme (vgl. fd 24/1994, S.4), die im Ort geblieben sind, finden noch ein paar Reste, Bänder mit Etiketten, die damals jedem Produkt aufgenäht wurden. Ein Mitbringsel, das Renate zu ihren Orden legen will, Erinnerung an eine untergegangene Zeit. Dann zeigt die Kamera beide Frauen in der Totale, einsam in der Halle stehend. Ian gsam werden die Neonlichter ausgeschaltet, bis es schließlich schwarz wird auf der Leinwand. Renate ruft, das Licht solle doch bitte wieder angeknipst werden, doch es bleibt dunkel. Die dunkle Fläche als Metapher für die ausgelöschte Industrie der DDR? Nun, es folgt noch eine Szene - vielleicht die berühmteste Einstellung aus allen "Wittstock"-Filmen, eine, die Koepp schon häufiger zitiert hat. Elsbeth, die damals noch Stupsi gerufen wurde, erzählt, wie nach ihrer Meinung ein guter Film aussehen sollte: Ein Paar trifft sich, findet sich, dann verliebt sich die Frau in einen anderen. Aber sie merkt, er ist nicht der Richtige, und das Paar findet sich erneut. Die Heirat aber soll nicht das Ende des Films sein, über die entstehende Familie soll etwas drin sein, und von der Arbeit auch. Erst mit dieser Szene endet "Wittstock, Wittstock", der letzte Film einer Ian gen Beobachtung vom Leben in der DDR und wie es sich in der neuen Bundesrepublik Deutschland wandelte.

Was Stupsi wünschte, hat Koepp mit den Mitteln des Dokumentarfilms getan: die Lebensläufe so vollständig wie möglich zu zeigen. Und das heißt: ohne Zudringlichkeit und ohne Überschreitung der Grenzen, die von den Personen selbst definiert werden. Er hat von der Arbeit erzählt, und in diesem neuen Film erzählt er auch von den Familien. Andeutungen sind oft genug, besser jedenfalls als Voyeurismus. Der Film rekapituliert die Spanne zwischen 1975, als der erste Film entstand, und heute. Eine Chronologie, die mit Ausschnitten arbeitet, die schon in früheren Filmen vorkamen, und sie mit unbekanntem Material mischt. Wie im Zeitraffer liegen die Geschichten von Edith, Elsbeth und Renate nun vor dem Betrachter. Die Anfänge im Werk, mit den Hoffnungen auf eine sinnvolle Arbeit, mit den Träumen vor allem der Jugendlichen. Dann kommen die ersten Rückschläge, eine Vergeblichkeit liegt in vielem, das System bleibt starr. Die offene Kritik, die ungeschminkte Rede droht zu verstummen. Selbst die burschikose Renate, die kritische Edith deuten lieber an, als die Dinge beim Namen zu nennen. 1984 herrscht Resignation, auch bei diesen drei Frauen, die jede auf ihre Art so aktiv sind, so voller Tatendrang - und die sich zu oft gebremst gesehen haben.

Hier war die Reihe der "Wittstock"-Filme schon einmal zu Ende. Die Erstarrung gab kein Material mehr her. Erst die Wende machte Koepp noch einmal neugierig zu sehen, was passierte. Wieder wurden Regisseur und Figuren zu Kumpanen, die eine gemeinsame Vertrauensbasis besaßen. Nun hieß die Realität Arbeitslosigkeit, Unsicherheit, für Edith Umzug nach Westdeutschland. Aber keine Spur von Resignation. Ohne Illusionen, ohne Klage erzählen die Frauen vom neuen Leben. Edith und ihr Mann haben in Schwaben wieder Arbeit gefunden - das Heimweh bleibt. Renate, die nun als Zimmerfrau arbeitet, macht die geschönte Arbeitslosenquote, die Hoffnungslosigkeit so vieler, regelrecht rebellisch. Sie sagt auch jetzt ihre Meinung, und die lautet: "Nichts wird gut. Es wird Bürgerkrieg geben". Lacht ruhig, sagt sie zu den Töchtern, und lächelt dann auch. Ihr Temperament kann sich nicht beruhigen, und warum sollte sie gerade jetzt still sein? Elsbeth macht wieder einmal eine Umschulung; sie hat jetzt schon viel Neues gelernt. Aber das wird gerade nicht gebraucht auf dem Markt. Dort ziehen sie ungelernte Verkäuferinnen vor.

Das Vergehen der Zeit ist ein zentrales Thema des Films. Die Bilder des Kameramannes Christian Lehmann, der von Anfang an dabei war, betonen das. Seine Kompositionen darf man ruhig "schön" nennen - ihre ästhetische Qualität gehört zum Konzept dieser Dokumentarfilme dazu. Sie sind Erzählungen vom alltäglichen Leben, sie sind daher auch Inszenierungen. Kein direct cinema, sondern ein kalkulierter, poetischer Dokumentarfilm, der mit den Bildern erzählt. Immer wieder gibt es daher die Totalen vom Ort, in denen sich die Veränderungen ablesen lassen oder die isolierten Einstellungen, in denen die Atmosphäre einer bestimmten Zeit eingefangen wird: schlendernde russische Soldaten auf dem Marktplatz; das Treiben auf den Straßen; Ansichten vom Werksgelände, auf dem nun ein Fitneßcenter, mehrere Büros und das örtliche Arbeitsamt untergekommen sind. "Wittstock, Wittstock" setzt einen Schlußpunkt; sowohl der Regisseur als auch die Hauptfiguren wissen: es gibt kein nächstes Mal. Schon "Neues in Wittstock" (1992) hat die alten Aufnahmen zitiert, mal amüsiert, mal selbstironisch kommentiert von den Frauen, die die Bilder aus ihrer Vergangenheit betrachten. Nun ist der Rückblick greifbar bis in die Komposition. Der Film inszeniert offen seine Zitate, Elsbeth steht noch einmal fast genau so vor der Kommode wie damals, als sie noch Stupsi gerufen wurde, findet sich noch einmal an der Straßenecke und bemerkt spöttisch, Felljacke und rote Tasche habe sie diesmal nicht dabei. Hinter Elsbeth sieht der Zuschauer eine Filiale der Deutschen Bank. Fast alles hat sich geändert in Wittstock, darin gleicht der Ort anderen der ehemaligen DDR. Aber Elsbeths Lächeln ist nur fast unmerklich verändert, wie auch Renates direkte Art und Ediths Realismus. Vieles haben die Frauen verloren, die Arbeit, die gesellschaftliche Anerkennung, nicht aber ihren Selbstrespekt, nicht ihre Sicherheit. Die Schranken, die sie früher gespürt haben, wünschen sie sich nicht zurück. Auf die Frage nach den schönsten Momenten ihres Lebens antwortet Renate: die Augenblicke, wo ein neuer Abschnitt des Lebens begann, das Kinderkriegen - und daß sie endlich die Verwandten aus dem Westen kennenlernen konnte. All diese Lebensläufe sind in der Schwebe, die Ungewißheit ist fast greifbar. Es gibt kein Ende, in dem diese Geschichten restlos aufgehen würden, sie sind so unabgeschlossen wie die "Wende" selbst.
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