Borowitschi

Dokumentarfilm | Deutschland 1996 | 98 Minuten

Regie: Viola Stephan

Filmisches Porträt der russischen Kleinstadt Borowitschi. Ein verhaltener Film, der seinem Gegenstand gerecht wird, weil er sich ihm phänomenologisch nähert und allein die Bilder sprechen läßt. - Ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
1996
Produktionsfirma
Viola Stephan Filmprod.
Regie
Viola Stephan
Buch
Viktor Kossakowski
Kamera
Viktor Kossakowski
Schnitt
Vessela Martschewski
Länge
98 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
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Diskussion
Die russische Kleinstadt Borowitschi liegt ungefähr auf halber Strecke zwischen Moskau und St. Petersburg. Ein russisches Gemeinwesen mit Problemen wie viele andere auch, doch für die hier Lebenden mit sehr konkreten Realitäten verbunden. Für mehrere Monate lang war Borowitschi Drehort für ein deutsch-russisches Aufnahmeteam, das sich nichts Geringeres zur Aufgabe gemacht hatte, als genau diese Wirklichkeit jenseits der flüchtigen Nachrichtenbilder ausfindig und transparent zu machen. Das Unterfangen ist gelungen, um es vorweg zu sagen: Der vorliegende Film erweist sich als gleichsam informativ wie unaufdringlich.

An den Laternenmasten finden sich noch die Insignien der Sowjetmacht, im Vorzeigegymnasium hat man sie schon gegen Ikonen ausgetauscht. Industrie gibt es so gut wie keine mehr, man baut im Vorgarten Kartoffeln an und versucht, irgendwie mit irgendetwas Handel zu treiben. Überhaupt scheint das auf die gesamte Stadtfläche verstreute Markttreiben mehr eine Selbstbestätigung von Lebenswillen zu sein, als tatsächlicher Warenaustausch. Dieses fast beschwörende (und tatsächlich von Gebeten begleitete) Gebaren erinnert an den Titel eines alten Andrzej-Wajda-Films: hier ist man gezwungen, einfach "alles zu verkaufen" - und sei es das letzte Saatgut. Wie der Lokalfunk in seinen täglichen Polizeinachrichten vermeldet, dümpelt auch die Kriminalität im seichten: ein spektakulärer Wohnungseinbruch brachte den Dieben z. B. eine Lederjacke, einen Nerzmantel und 70 Stück Seife. Beliebte Objekte der Begierde sind auch Gläser mit Eingemachtem im Keller und natürlich Wodka. Doch Borowitschi hat auch schon sein Casino mit livrierter Bedienung und poliertem Tresen: hier stellen die Parvenus ihren neuerworbenen Wohlstand aus, spielen, im wörtlichen Sinne Kapitalismus. Die Kamera umkreist Arme und Reiche, setzt keine wertenden Prioritäten, läßt allein die Bilder sprechen. Angesichts der sich in Rußland vollziehenden Umbrüche wäre jede Kommentierung aus westeuropäischer Perspektive auch reine Anmaßung. Hiesige gesellschaftliche Probleme relativieren sich im Vergleich dazu ohnehin. Viola Stephan und Victor Kossakovsky nähern sich dem Gegenstand phänomenologisch, nicht akademisch oder journalistisch. Ihr Film ist eine sanfte Replik an Landschaften und Menschen, eine authentische Sympathiebezeugung, nicht mehr und nicht weniger. Das Chaos der Wirklichkeit lichtet sich dadurch keineswegs; gewiß ist nur, der nächste Winter kommt bestimmt.
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