Diebe der Nacht

Drama | Frankreich 1996 | 117 Minuten

Regie: André Téchiné

Der Film führt unterschiedlichste Figuren, die in einem komplexen Beziehungsgeflecht stehen, zusammen. Im Mittelpunkt steht ein Mädchen, das sowohl von einer älteren Philosophie-Lehrerin als auch von einem zynischen Polizisten geliebt wird, der in seiner kriminellen Familie zum Außenseiter wurde. Behutsam und eindringlich dank vorzüglicher Darsteller, umkreist der Film aus mehreren Perspektiven die Handlungen und Motive der Personen, wobei er sich dramaturgischer Elemente aus Kriminalfilm und Familientragödie bedient, sie aber auf ganz eigene Weise miteinander verschmilzt. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
LES VOLEURS
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
1996
Produktionsfirma
Les Films Alain Sarde/TF1/Rhônes-Alpes Cinéma/D.A. Films
Regie
André Téchiné
Buch
André Téchiné · Gilles Taurand
Kamera
Jeanne Lapoirie
Musik
Philippe Sarde
Schnitt
Martine Giordano
Darsteller
Catherine Deneuve (Marie) · Daniel Auteuil (Alex) · Laurence Côte (Juliette) · Benoît Magimel (Jimmy) · Fabienne Babe (Mireille)
Länge
117 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama | Krimi
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Diskussion
Ein Film, geboren aus dem Geist der Musik: die unterschiedlichen Stimmen sind da, die verschiedenen Themen, die Exposition, die Durchführung, die Koda. Téchinés neues "Werk" gehorcht den Regeln der Polyphonic fast schon im klassischen Sinne. So wirkt sein Einsatz von Rückblenden und Vorausblicken, die zur Zeit weltweit die Filmdramaturgie prägen, denn auch weniger als solcher an sich. Stattdessen bietet er ihm die Möglichkeit, "Blöcke" zu bilden, in denen er die Themen des Films jeweils neu in Beziehung setzen kann. So wie sich besonders die Musik des 19. Jahrhunderts oft auf einen "Inhalt" bezog, benutzt Téchiné umgekehrt die Strukturelemente der Musik, um über sie seine Geschichte zu konstruieren.

"Diebe der Nacht" ist Gangstergeschichte und Familiendrama in einem. Widmete sich Téchiné in seinen letzten Filmen "Meine liebste Jahreszeit" (fd 30 652) der älteren und in "Wilde Herzen" (fd 31 180) der jüngeren Generation und ihren jeweiligen Lebensfragen, so führt er diesmal neben den unterschiedlichen sozialen Schichten auch die ganze Bandbreite an Generationen zusammen. Justin hat seinen Vater Ivan verloren. Die Familie trauert, obwohl sie wußte, daß es so kommen konnte, denn Ivan führte die Aktivitäten der Familie mit kriminellen Autoschiebereien fort. Auch Alex, Ivans Bruder, kommt in Begleitung eines Mädchens namens Juliette in die abgelegenen Berge zum Kondolenzbesuch. Er ist Polizist in Lyon und wird von der Familie mit Mißtrauen und Ablehnung betrachtet. Schon dem kleinen Justin bleibt das nicht verborgen. Aus seiner Perspektive wird man in die Story eingeführt. Wie ein kleiner Junge in seinem Alter wird man mehr mit Ahnungen und der halben Wahrheit konfrontiert; das wahre und höchst komplizierte Geflecht der Beziehungen und ihrer Psychologie durchdringt man erst viel später. Dazu muß man zurück in die Vergangenheit, und die Perspektive wechselt zu den Erwachsenen - zu Alex und später zu der Philosophie-Dozentin Marie, die in Liebensbeziehungen zu Juliette verwickelt sind.

Alex lernt Juliette auf der Polizeistation kennen, nachdem das Mädchen bei einem Diebstahl erwischt wurde. Mehr aus Gleichgültigkeit denn aus Güte läßt er Juliette laufen. Einige Zeit später begegnet er ihr im Nachtclub seines Bruders wieder. Vielleicht ist es die Ohnmacht gegenüber Ivan und seiner "rechten Hand" Jimmy, Juliettes Bruder, die ihn in eine lieblose sexuelle Affäre auf Hotelzimmern treibt. Hier erweist sich Auteuil einmal mehr als Meister in der Darstellung verbitterter Charaktere, die gleichzeitig so voller Zynismus und Verletzlichkeit stecken, daß sie selbst in Chancen nur Sackgassen entdecken können. Gerade die Unmöglichkeit, die offensichtlichen Widersprüche der Liaison mit der kleinen, orientierungslosen Kriminellen scheinen ihn zu reizen. Und doch läßt Auteuil ganz sachte ahnen, daß vielleicht doch ein Hauch von Mitgefühl in dem verbitterten Kerl stecken könnte. Auch Marie ist illusionslos in ihrer Sicht und klärt ihre Schüler über Aggression und Egoismus des Menschen auf. Anders als ihr "Rivale" in der Liebe zu Juliette begegnet sie dem Mädchen jedoch wider alle Vernunft mit bedingungsloser und gleichzeitig beherrschter Hingabe, nimmt sie an und bemüht sich, eine Perspektive zu erkennen. Nicht einmal der Kontakt zu Juliettes kriminellem Umfeld kann sie erschüttern. Mit ihrem praktischen Handeln begegnet sie der theoretischen Frage, wie man alten Weisheiten zu neuer Aktualität verhilft. Im Gegensatz zu dem opportunistischen Polizisten ist sie weltfremd und unangepaßt: im Guten wie im Schlechten bleibt sie ihren Überzeugungen treu - und gewinnt dadurch eine beeindruckende Kraft.

Damit ist das Kraftfeld, in dem Juliette gefangen ist, noch lange nicht erschöpft, denn sowohl ihr krimineller Bruder als auch Alex' Bruder Ivan versuchen, Einfluß auf sie zu gewinnen. Besonders Ivan sieht in ihr einen willkommenen Köder, um den Bruder auf der anderen Seite des Gesetzes in Schach zu halten. Wie in einem Roman von Faulkner gleiten die Figuren und ihre Konflikte am Zuschauer vorbei. Kleinste Elemente wie ein vorüberfliegendes Flugzeug bieten flüchtige Orientierungspunkte im Handlungsgefüge der Geschichte, die jenseits der natürlichen chronologischen Ordnung ihre eigene polyphone Logik entwickelt. Am Ende wird es keine Sieger geben, auch keinen Triumph der Moral - aber für eine Person zumindest vielleicht die Chance für einen Ausbruch aus den bestehenden Verhältnissen.
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