Das Tagebuch des Verführers

Liebesfilm | Frankreich 1995 | 95 Minuten

Regie: Danièle Dubroux

Ausgehend von Kierkegaards gleichnamigem Werk, spielt der Film verschiedene Variationen der Verführung durch, wobei im Mittelpunkt ein Pariser Studentenpaar steht. Teils philosophische Komödie, teils Krimi-Groteske, funktioniert die Geschichte wie eine chemische Versuchsanordnung, die das Wunder der Liebe erforschen will und dabei die Verstrickungen der Figuren immer wieder ironisch bricht. Die Lust am geheimnisvoll kriminalistischen Spiel läßt dabei nie vergessen, daß es auch um moderne existentielle Probleme wie Einsamkeit, Todessehnsucht und Neurosen geht. Ein hochintelligenter Film, ausgestattet mit zahlreichen literarischen, kulturhistorischen und filmischen Bezügen, der zugleich stets auch als bezauberndes Märchen fesselt. (O.m.d.U.) - Sehenswert.
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Filmdaten

Originaltitel
LE JOURNAL DU SEDUCTEUR
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
1995
Produktionsfirma
Gemini/Madrogoa/Canal +/CNC
Regie
Danièle Dubroux
Buch
Danièle Dubroux
Kamera
Laurent Machuel
Musik
Jean-Marie Sénia
Schnitt
Jean-François Naudon
Darsteller
Chiara Mastroianni (Claire Conti) · Melvil Poupaud (Grégoire Moreau) · Hubert Saint-Macary (Hubert Markus) · Serge Merlin (Robert) · Mathieu Amalric (Sébastien)
Länge
95 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
Genre
Liebesfilm
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Diskussion
Einmal gehen die Helden ins Kino. Gespielt wird "Das Wort" (1954) von Carl Theodor Dreyer, die Geschichte eines "Verrückten", dem es kraft seines Glaubens gelingt, seine im Wochenbett verstorbene Schwägerin ins Leben zurückzuholen. Dreyers Arbeit fußt auf den existentialistischen Theoremen von Sören Kierkegaard. Auch "Das Tagebuch des Verführers" entstand nach Motiven eines Romans des dänischen Philosophen und Dichters, und auch hier kreist das Geschehen um Wunder. Daniéle Dubroux: "Das ist die Idee, die ich entwickeln wollte: Menschen können durch großen Glauben außergewöhnliche Dinge Wirklichkeit werden lassen. Der Glaube an die Religion oder an die Liebe kann Wunder bewirken." Der Film ist wie eine chemische Versuchsanordnung angelegt - und bricht die an ein naturwissenschaftliches Experiment gemahnende, mit Zwischentiteln arbeitende Dramaturgie doch immer wieder ins Komödiantische. Alles ist ernst, und nichts wird ernst genommen. Die Figuren geraten, von der Liebe beflügelt, in Abhängigkeit und Schuld, aber der Film beschreibt das mit einem ironischen, bisweilen spöttischen Unterton. Daniéle Dubroux beschädigt dabei nie ihre Helden; liebevoll und ohne Anflug von Denunziation beobachtet sie selbst noch ihre größten Verschrobenheiten. So kommt sie der philanthropischen Weltsicht eines François Truffaut sehr nahe - Filme wie "Die Geschichte der Adele H." oder "Das grüne Zimmer" scheinen Pate gestanden zu haben, und nicht zuletzt tritt Jean-Pierre Léaud in der Rolle eines Besessenen auf, ganz wie bei seinem verstorbenen Entdecker und Freund.

Durch Zufall gerät Kierkegaards Roman in die Hände von Claire, die ihn seinem Besitzer, dem Philosophie-Studenten Grégoire, zurückgeben will. Claire ist in der Liebe noch unerfahren (Chiara Mastroianni spielt sie kühl und statuarisch, mit wenigen mimischen und gestischen Regungen). Von Grégoire ist sie fasziniert: einem merkwürdigen Knaben, schwarz gekleidet, mit dunklen Locken, streng, melancholisch, "blaß wie der junge Prinz Hamlet", wie es heißt. Nicht von ungefähr wirkt der weiße Reißverschluß seines Pullovers wie ein Kreuz. Grégoires Seele scheint wie von einer unsichtbaren Last beschwert, die ihn unfähig macht zu lachen und zu lieben: "Meinesgleichen will ich finden. Die Gespenster der Dämmerung. Alle die Unglücklichen, für die der Unterschied zwischen Tag und Nacht vor der Monotonie des Leidens verblaßt ist." Die Erkenntnis, daß ihn gerade sein Ernst und seine Todessehnsucht zum Verrührer prädestinieren, liegt außerhalb seines Horizonts.

Grégoires Gegenspieler Sébastien, der Buffo des Films, ist aus anderem Schrot und Korn, offen, direkt und ein bißchen poltrig. Er will Claire erobern und schafft es dann wenigstens bei ihrer Mutter. Daß sein erotisches Drängen, wie er behauptet, damit zu tun hat, die Zielrichtung seiner Sexualität - hin zu Frauen oder zu Männern - zu testen, wird durch Mathieu Amalrics schlitzohriges Spiel als Ausrede deutlich: Um Claire zu erobern, erregt er erst einmal ein bißchen Mitleid. In Dreyers "Das Wort" schläft Sébastien folgerichtig ein - das Grüberlische und Dunkle ist seine Sache nicht. Um Grégoire herum wird eine Welt aus geheimnisvollen Wesen konstruiert, auf die schon die Titelmusik einstimmt: ein Walzer mit vorwiegend hohen Violinentönen, der Dramatisches und Spielerisches zugleich ankündigt. Dramatisch ist in der Tat, was Claire in Grégoires gruftiger Wohnung entdeckt: die vielbeschworene "Leiche im Keller" erweist sich als Leiche im Kühlschrank. Der von Nebeln verhangene See, in dem sie dann versenkt wird, führt das Wasser des Unterwelt-Flusses Styx; und Grégoires alter Nachbar und Aufpasser Robert assoziiert den Höllenwächter ebenso wie den Fährmann des Todes. Die Großmutter, mit der Grégoire zusammenlebt, eine greise Schauspielerin, bringt Realität und Kunstwirklichkeit ständig durcheinander: auch das ein "klassischer", in Literatur und Kino oft behandelter Fall. Der Film ist gespickt mit solchen literarischen und kulturhistorischen Verweisen; aber wer sie nicht zu lesen weiß, dürfte trotzdem sein Vergnügen finden: "Das Tagebuch des Verführers" ist einfach auch ein bezauberndes Märchen.

Die These der Regisseurin, daß "die Abhängigkeit in der Liebe sehr weit gehen kann, bis zum Verbrechen oder zur Beihilfe zum Verbrechen", erfährt noch einmal eine Bestätigung in der Geschichte um Claires Psychiater Hubert. Mit ihm beginnt der Film, und mit ihm endet er. Auch Hubert wird beim Lesen von Kierkegaards Buch in eine tiefe Neurose katapultiert Er verfällt dem Wahnsinn der Liebe, der erst überwunden wird, als ihn ein Schlag auf den Kopf jeder Erinnerung beraubt. Wie vieles andere ist auch das ironisch gemeint. Aber es spiegelt auch das Trauma der Einsamkeit und Existenzangst - mithin ein Problem, das viele betrifft.
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