Die Leinwand bleibt zunächst schwarz bis auf ein kleines Rechteck in der Mitte, das ein Fernsehgerät zeigt: die Moderatorin einer News Show kündigt - im wohlgesetzten Blankvers Shakespeares - die Liebestragödie an. Dann explodiert die Leinwand förmlich. Fetzende Schlagzeilen knallen ins Bild, die Protagonisten werden vorgestellt, stakkatoartig hämmert die überlaute Musik, delirische Kamerabewegungen, aberwitzige Schnittfolgen im Stil der Musikvideos reißen den Zuschauer in ein Inferno ungezügelter Gewalt. Zwei Gangs liegen in einem gnadenlosen Krieg: Wenn sich die Heißsporne des Montague-Clans mit ihrem lässigen Hawaii-Look und die im schwarzen Outfit der Leinwand-Desperados gekleideten Schläger aus dem Capulet-Clan begegnen, sitzen die stahlblitzenden Schnellfeuerpistolen locker. Shakespeare ist im Kino der 90er Jahre gelandet, in der Leinwandwelt von Tarantino und Rodriguez. Baz Luhrmann, der 35jährige australische Regisseur, der mit seinem Regiedebüt "Strictly Ballroom"
(fd 29 869) gleich einen Welterfolg landen konnte, hat Shakespeare in eine Bildersprache für die MTV-Generation übersetzt. Die Handlung der Shakespeareschen Tragödie hat er beibehalten, aber sie in andere Situationen versetzt. Romeo und Julia lernen sich wie bei Shakespeare auf einem orgiastischen Fest der Capulets kennen und verlieben sich spontan ineinander. Doch ihre Liebe, die durch eine heimliche Trauung schnell besiegelt wird, hat keinen Bestand, denn als Romeo gegen seinen erklärten Willen zur Gewaltlosig-keit Julias Cousin Tybalt tötet, wird er verbannt, und eine von Pater Laurence ersonnene List, Julia durch eine Droge scheintot zu machen und dadurch vor einer Heirat mit dem ungeliebten Bewerber zu retten, endet mit dem tragischen Tod beider Liebenden, weil Romeo angesichts der für tot gehaltenen Geliebten selbst Gift nimmt und Julia ihm in den Tod folgt.Angesiedelt in einer Kunstwelt aus Versatzstücken des aktuellen Action-Kinos der Gewalt, der kommerziellen Popmusik-Kultur und einer gehörigen Dosis religiösem Kitsch, erzählt Luhrmann die Geschichte von Romeo und Julia als einen tragisch scheiternden Versuch, eine Utopie der Liebe als Überwindung der destruktiven Welt des Materialismus und der Gewalt wirksam werden zu lassen. Sein Ansatz ist dabei im Grunde nicht neu. Was die bekannteste und vielleicht beste aktualisierende Bearbeitung der Shakespeare-Tragödie, das Musical "West Side Story"
(fd 11 459), in den 60er Jahren erreicht hat, versucht Luhrmann vor dem Hintergrund der Erfahrungen der 90er Jahre. Auch sein Film ist eine Art Musical, wenn die Musik nicht die Dialoge ersetzt, sondern nur als Kommentarebene im Hintergrund bleibt und stilistisch aus einem Repertoire schöpft, das von ironischen Choralgesängen über gefühlvolle Pop-Balladen im Stil von Houston bis zu alternativer Rockmusik und dem unvermeidlichen Wagner-Zitat aus "Tristan und Isolde" in der Sterbeszene reicht. Anders als in der "West Side Story", die einen realistischen sozialkritischen Ansatz mit der Thematisierung der Konflikte zwischen der weißen Unterschicht und den puertorikanischen Einwanderern in New York vertrat, setzt Luhrmann eher auf eine medienbezogene Reflexion, indem er eine Welt absoluter Künstlichkeit erzeugt, in der alle Details verweisenden Zeichencharakter haben. Sein Schauplatz, Verona Beach, ist eine fiktive Stadt, eine Mischung aus Miami Beach und Mexiko City. Das Stadtbild wird dominiert von den Wolkenkratzern der beiden Konzerne Montague und Capulet, und in der Mitte steht überlebensgroß, wie herabgestiegen von den Bergen bei Rio de Janeiro, eine Christusstatue. Überhaupt erscheinen viele Szenen vollgestopft mit religiösen Zeichen, von den riesigen Madonnenbildern im prunkvollen Treppenhaus der Capulets, den kitschigen Nippesfiguren in Julias Schlafzimmer bis zu ihren Engelsflügeln, die sie zum Maskenball trägt. Religion ist zur dekorativen Staffage verkommen, die blutigen Kämpfe spielen sich zu den Füßen der in dieses Sodom hinabgestiegenen überdimensionalen Christusfigur ab, deren gehobene Arme zunehmend wie eine Geste der Hilflosigkeit erscheinen. Weder Religion hat eine das Zusammenleben in positiver Weise regelnde Kraft noch das riesige Aufgebot an polizeilicher Macht, durch die der Polizeichef Captain Prince noch einen Rest an Ordnung aufrechzuhalten versucht.Die überbordende Fülle der Details beschäftigen die Wahrnehmungskapazitäten des Zuschauers. Speziell für den Shakespeare-Kenner hat der Regisseur allerlei Zitate eingebaut: ein heruntergekommenes Kino heißt "Globe Theatre", der Imbißstand am Strand "Rosen-crantzky's", und für Prospero Whisky wirbt eine Reklametafel. Bei der unübersehbaren Fülle der Einfälle ergibt sich zwangsläufig, daß nicht jedes Detail tieferen Sinn macht. Warum Mercutio als Transvestit auftreten muß oder Pater Lorenzo auf seinem Rücken ein großen Kreuz eintätowiert hat, sind Details, über deren Deutung man nicht lange nachgrübeln sollte. Luhrmanns Konzept geht insgesamt durchaus auf, manchmal sehr überzeugend wie in der Szene, in der Romeo vergeblich versucht, Julias Cousin Tybalt ohne Gewalt zu begegnen, während dieser in der vermeintlich unmännlichen Haltung nur eine Provokation sieht. Nicht voll überzeugen kann die Liebesgeschichte, die zu sehr als eine kindlichunschuldige Teenager-Schwärmerei erscheint. Und die Rolle des Zufalls, der schon bei Shakespeare stark strapaziert wird, spielt Luhrmann bis an die Grenze des Lächerlichen aus: Romeo übersieht die Lebensregungen seiner Julia, die schon die Augen wieder geöffnet hat und seine Wange berührt, als er gerade in dieser Sekunde das Gift verschluckt. Es zeigt sich bei allen Schwächen, daß die Shakespearesche Vorlage unverwüstbar ist und sich auch Shakespeares Sprache in diesem Sammelsurium von Zeichen und Stilen behaupten kann. Luhrmann hat den Shakespearschen Text zwar um etwa ein Drittel zusammengestrichen, läßt ihn aber nicht mit wohlgesetzter Artikulation traditioneller Shakespeare-Mimen deklamieren, sondern wie Umgangssprache behandeln. Dabei hat die Originalfassung noch den besonderen Reiz, daß die verschiedenen amerikanischen Akzente den Figuren eigene Färbungen geben. Luhrmanns Film hat einen großen Reiz und ist ein interessanter Versuch, Shakespeare in einem aktuellen Kontext der Reflexion über Gewalt und moderne Medienkultur anzusiedeln und den Erfahrungen der Jugendlichen von heute nahezubringen.