In der Silvesternacht macht ein Mann ein gruselig-transzendentales Läuterungserlebnis durch, als er den "Fuhrmann des Todes", der die Seelen der Verstorbenen einsammelt, auf seiner Fahrt begleitet. Eine eindrucksvolle filmische "Schauerballade", basierend auf dem Roman von Selma Lagerlöf. Innerhalb der komplexen Erzähl- und Rückblendenstruktur treffen mystische Elemente auf realistische Szenen, die soziale Missstände infolge der Industrialisierung anprangern. Dank großer emotionaler Momente entfaltet sich der Film trotz der eher pädagogisch-lehrstückhaften Botschaft atmosphärisch dicht.
- Sehenswert ab 14.
Der Fuhrmann des Todes
Drama | Schweden 1920 | 90 (18 B/sec) Minuten
Regie: Victor Sjöström
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Filmdaten
- Originaltitel
- KÖRKARLEN
- Produktionsland
- Schweden
- Produktionsjahr
- 1920
- Produktionsfirma
- Svenska Biograf Film Studio/Svensk Filmindustri
- Regie
- Victor Sjöström
- Buch
- Victor Sjöström
- Kamera
- Julius Jaenzon
- Musik
- Elena Kats-Chernin
- Darsteller
- Victor Sjöström (David Holm) · Hilda Borgström (Frau Holm) · Tore Svennberg (Georg) · Astrid Holm (Schwester Edit)
- Länge
- 90 (18 B
sec) Minuten - Kinostart
- -
- Fsk
- ab 6
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 14.
- Genre
- Drama | Literaturverfilmung
- Externe Links
- IMDb | TMDB | JustWatch
Heimkino
Der rekonstruierte Film ist mit einer von ZDF/arte in Auftrag gegebenen neuen Filmmusik von Elena Kats-Cherin (eingespielt vom Sydney Alpha Ensemble) versehen. Die Extras umfassen u.a. ein informatives Booklet sowie als "Bonusfilm" das noch erhaltene Fragment des Filmes "Der Todeskuss" (33 Min.) von Victor Sjördström von 1915.
Diskussion
Der schwedische (Theater-)Schauspieler und Regisseur Victor Sjöström (1879-1960) erlebte mit „Der Fuhrmann des Todes“ seinen internationalen Durchbruch und wechselte 1923 nach Hollywood. Dem viel zitierten Meisterwerk der schwedischen Stummfilm-Schule liegt der 1912 erschienene, gleichnamige Roman von Selma Lagerlöf (1858-1940) zugrunde. Vom Tuberkulose-Tod ihrer Schwester betroffen, wollte die Literatur-Nobelpreisträgerin zur Bekämpfung der medikamentös noch nicht heilbaren Krankheit beitragen. Auch eigene Erfahrungen sozialer Missstände infolge der Industrialisierung als junge Lehrerin spiegeln sich in den realistischen Szenen des Films, mit denen Regisseur und Autorin auf die Verelendung und den Verfall der Sitten hinweisen. Lagerlöfs Plädoyer für eine puritanische, verantwortliche Lebensweise mit der Tendenz zum Protestantismus, zur Mystik wird in der Psychologisierung, den Seelenlandschaften von „Der Fuhrmann des Todes“ sichtbar. Lagerlöfs Stoffe dienten Sjöström nach den naturalistischen Filmen „Ingeborg Holm“ (1913) und „Terje Vigen“ (1916) als Quelle und Inspiration.
Eine schwedische Kleinstadt um 1900. Am Silvesterabend liegt die Heilsarmeeschwester Edit mit einer Lungenentzündung im Sterben und möchte noch einmal den Taugenichts David Holm sehen. Dieser will mit zwei Kumpanen am Friedhof auf das neue Jahr anstoßen und erzählt ihnen die alte Legende vom Fuhrmann des Todes. Demnach soll der letzte Tote des alten Jahres dazu verdammt sein, die Seelen der Verstorbenen einzusammeln. Als unter dem Trio ein Streit ausbricht, verliert Holm, von einer Flasche getroffen, das Bewusstsein. Punkt Mitternacht taucht ein Totenwagen auf, dessen Lenker Holms vor einem Jahr verstorbener Zechbruder Georges ist. Jener hatte ihn zum Trinken animiert, sodass seine Ehe zerbrach, er im Gefängnis und schließlich – auf der Suche nach seiner Frau, die ihn verlassen hatte – bei der Heilsarmee landete. Nach langem Zögern folgte Holm Edits Rat, zur Familie zurückzukehren. Der Fuhrmann des Todes weist seinen Nachfolger in die Arbeit ein: „Du wirst deine Fehler büßen, deine Sühne beginnt.“ Erste Station ist das Haus von Edit, die wegen eines letzten Rettungsversuchs und aus Liebe zu Holm um Aufschub bittet. Dieser erkennt seine Schuld, windet sich Vergebung suchend am Boden, sodass die Sterbende glaubt, ihr Schützling habe sich gebessert – und zufrieden stirbt. Gerührt bittet der alte Fuhrmann: „Gott, lass’ meine Seele vor der Ernte reifen.“ Nächstes Ziel ist Holms Heim, wo seine Frau ihrem und dem Leben der beiden Kinder ein Ende setzen will. Von Georges am Eingreifen gehindert, muss Holm erkennen, dass er in der Welt der Lebenden seine Fehler nicht korrigieren kann. Als die Frau den Gifttrank ansetzt, erwacht der Reumütige aus seinem entsetzlichen Albtraum. Angsterfüllt rennt er nach Hause.
Die 1995 für die arte-Ausstrahlung geschriebene Musik von Elena Kats-Chernin wurde vom Sydney Alpha Ensemble unter der Leitung von Elliot Gyger eingespielt. Verhaltene, sehr reduzierte Ostinatosequenzen setzen wohlüberlegte Akzente. Die Kammerensemble-Besetzung schafft eine magische Atmosphäre, die sich mit den mystischen und realistischen Passagen wunderbar verbindet. Die komplexe Erzähl- und Rückblendenstruktur des Films erhält so keine zusätzliche Metaebene, sondern findet in der gefühlvollen Phrasierung eine zeitlose, begleitende Funktion. Die Technik der Mehrfachbelichtung nutzte schon Georges Méliès; Kameramann Julius Jaenzon zaubert mit Doppelbelichtungen des Todeskarrens ein sinnlich-übersinnliches Universum der Lebenden und der unsichtbaren Toten. Daneben sorgt das Ambiente des Films für neue Akzente: „…der Kirchhof, das Meer, der neblige, herbstfeuchte Weg – das alles rief suggestive Geisteratmosphäre hervor, aus welcher der Fuhrmann mit seinem mageren Pferd und seinem klapprigen Karren mit logischer Notwendigkeit wie eine Vision des Vergänglichen auftauchte“, schrieb der schwedische Filmhistoriker Rune Waldekranz. Die moralische Dimension kreist um den Konflikt von Individuum und Gesellschaft. Den Inszenierungsstil mag man als sentimental, überholt und veraltet einschätzen – das moralische, fromme Lehrstück weist aber große emotionale Momente einer schaurigen Moritat auf. Man sagte, Sjöström benutze die Leinwand „wie der Prediger die Kanzel“. Die vorliegende Bildfassung des ursprünglich 2129 Meter langen Stummfilms basiert auf einer wunderschön viragierten Kopie des Schwedischen Filminstituts (1832 Meter); die Abtastung des Films mit einer Geschwindigkeit von 18 Bildern pro Sekunde wirkt natürlich und ergibt eine Laufzeit von 90 Minuten. In vielen Ländern kamen umgeschnittene Versionen zum Einsatz, in den USA wurde der Film 1922 in einer bearbeiteten Fassung neu herausgebracht, um einem größeren Publikum das Verständnis zu erleichtern. Der Export schwedischer „Kunstfilme“ wurde um 1920 schwieriger, da diese gegenüber amerikanischen Produktionen zu anspruchsvoll, gegenüber der französischen Konkurrenz zu altmodisch waren. Selbst in Stockholm begeisterte „Der Fuhrmann des Todes“ 1921 nur 92.000 Zuschauer, während Sjöströms vorheriger Film mehr als doppelt so viele Menschen erreichte.
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