Drama | Großbritannien 1991 | 90 Minuten

Regie: Derek Jarman

Provokante, meisterliche Verfilmung eines Theaterstücks des englischen Dramatikers und Shakespeare-Zeitgenossen Christopher Marlowe. Der junge König Edward zieht mit der leidenschaftlichen Liebe zu seinem Jugendfreund Gaveston den Zorn des Adels, des Klerus und der Königin auf sich. Der Stoff wird mit aktualisierenden Bezügen als Auseinandersetzung mit gesellschaftlicher Macht- und Gewaltausübung und der Unterdrückung der Homosexualität gedeutet. Die in ihrer ausgefeilten Ästhetik herausragende Theateradaption fordert den diskussionsbereiten Zuschauer mit ihrer schonungslosen Gesellschaftskritik heraus, die erkennbar von der Leidenserfahrung des von Aids gezeichneten Regisseurs geprägt ist. (In der deutschen Synchronfassung büßt der Film vieles von seiner Ausstrahlung ein.) - Sehenswert.
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Filmdaten

Originaltitel
EDWARD II
Produktionsland
Großbritannien
Produktionsjahr
1991
Produktionsfirma
Working Title/British Screen/BBC
Regie
Derek Jarman
Buch
Derek Jarman · Stephen McBride · Ken Butler
Kamera
Ian Wilson
Musik
Simon Fisher Turner
Schnitt
George Akers
Darsteller
Steven Waddington (Edward II) · Andrew Tiernan (Gaveston) · Tilda Swinton (Isabella) · Nigel Terry (Mortimer) · Kevin Collins (Lightborn)
Länge
90 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
Genre
Drama | Literaturverfilmung
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Diskussion
Wenige Tage vor seinem frühen gewaltsamen Tod im Mai 1593 mußte sich der englische Dramatiker Christopher Marlowe nach einer Denunziation vor dem Geheimen Kronrat verantworten. Das Verfahren wegen angeblicher Blasphemie und Atheismus blieb ergebnislos, der Ruf moralischer "Verderbtheit" (Marlowe galt Zeitgenossen als Homosexueller - seit Heinrich VIII. ein Verbrechen, das mit der Todesstrafe geahndet werden konnte) aber hing Marlowe weit über seinen Tod hinaus an.

Die Homosexualität des Titelhelden Edward (König von 1307 bis 1327) mag ein Grund dafür gewesen sein, daß Marlowes um 1591 entstandenes Drama rund 300 Jahre lang nicht aufgeführt wurde, ehe es zu Beginn unseres Jahrhunderts neu "entdeckt" wurde. (Unter anderem versuchte sich Bertolt Brecht in den 20er Jahren an einer Überarbeitung des Stoffs.) Derek Jarmans "Edward II" ist nun eine geniale Verfilmung des Stücks, die respektvolle Werktreue und provokante Aktualisierung geradezu traumwandlerisch verbindet.

Die Handlung - eingerahmt von Edwards Kerkerhaft in Erwartung seines Mörders - beginnt im Jahr 1307. Nach dem Tod seines Vaters Edward I. ruft der neue König seinen Geliebten Gaveston zurück, den der verstorbene Monarch wegen seines "verwerflichen" Einflusses auf den Thronfolger nach Frankreich verbannt hatte. Im Taumel der Wiedersehensfreude überhäuft Edward Gaveston mit Reichtümern und Titeln und düpiert auf diese Weise Adel und Klerus. Der König vernachlässigt die Regierungsgeschäfte und seine Frau Isabella, die ihn mit der gleichen Leidenschaft verehrt wie er selbst Gaveston. Adlige und Geistliche unter Führung des ehrgeizigen Roger Mortimer drohen daraufhin mit der Absetzung des Königs, falls Gaveston in England bleibt. Schweren Herzens unterzeichnet Edward die erneute Verbannung, für die er die Königin verantwortlich macht. Um Edwards Liebe zurückzugewinnen, setzt Isabella die Rückkehr des "Staatsfeindes" durch, in dessen Tod Mortimer inzwischen die einzige Chance zum Machterhalt sieht. Tatsächlich gelingt Gavestons Ermordung. Von Edward nun völlig vernachlässigt, schließt sich Isabella dem machthungrigen Mortimer an und wird seine Geliebte. Das Land stürzt in einen blutigen Bürgerkrieg, in dessen Verlauf Edwards neuer Günstling Spencer getötet und der König gefangengenommen wird. Im Kerker hadert Edward mit seinem Schicksal, während der gedungene Mörder sein grausiges Werk vorbereitet.

Der inzwischen 50jährige Derek Jarman muß spätestens seit "Caravaggio" (1986; fd 26 021) als künstlerisch radikalster und bemerkenswertester britischer Filmregisseur gelten. Jarmans leidenschaftliche Anklage der politischen und gesellschaftlichen Repressionen gegen Homosexuelle in Großbritannien und die Auseinandersetzung mit der Krankheit AIDS, an der Jarman selbst leidet, ziehen sich als roter Faden durch seine Werke. "Edward II" verbindet vor diesem Hintergrund Poesie und Politik, Zärtlichkeit und Gewalt, existentiellen Schmerz und Momente kindlicher Ausgelassenheit zu einem Kinoerlebnis von brutaler Wucht und einzigartiger Schönheit. Der Film strafft den Marlowe-Text, ohne ihn einschneidend zu verändern (und betont auf diese Weise die Zeitlosigkeit des Stücks). Der frühere Maler und Bühnenbildner Jarman schafft Gegenwartsbezüge über die Kulissen. Zwischen hohen, kargen Betonmauern genießen Edward und Gaveston ihr kurzes Glück; die konspirativen Zusammenkünfte der Verschwörer gleichen Aufsichtsrats oder Kabinettssitzungen; der in gleißendes Licht getauchte Bürgerkrieg spielt sich nicht zwischen Armeen, sondern zwischen gesichtslosen Polizisten und Demonstranten für die Gleichberechtigung Homosexueller ab; Mortimers Armeekleidung (und die schauspielerische Leistung Nigel Terrys) erhebt ihn zum überzeitlichen Repräsentanten einer Ordnungspolitik, deren Dasein sich auf Uniformität gründet und die auf "queers" ("Schwule", im weiteren Sinne Anders- bzw. Eigenartige) mit irrationaler Gewalt reagiert.

Es sind Vertreter einer heuchlerischen Machtpolitik, gegen die sich Jarman mit provozierender Schärfe wendet. Wenn Gaveston auf dem Weg ins Exil den Spießrutenlauf durch ein Spalier verächtlich spuckender Geistlicher antreten muß, will die Szene im Zusammenhang betrachtet werden. Nicht Glaubensfragen, sondern reine Besitz- und Machtansprüche haben König und Klerus entzweit. Jarmans Attacke gegen "weltliche" Ambitionen im Klerus ist polemisch, aber ebensowenig "atheistisch" wie Marlowes Vorlage.

Ganz im Sinne Marlowes gehören Jarmans Sympathien Edward und Gaveston, wobei Bühnenstück und Film eine übertriebene Schwarz-Weiß-Zeichnung vermeiden. Mit dem Klischeebild des schwächlichen, für die Opferrolle prädestinierten Homosexuellen jedenfalls räumt der Regisseur gründlich auf. Gaveston ist ein dynamisch-aggressiver Lebemann, der sich zu Beginn in Paris mit Seeleuten vergnügt, der aus der Zuneigung des Königs ungeniert Kapital zu schlagen weiß, dem die Demütigung Isabellas offenkundig Freude bereitet. Edward selbst ist "Täter", wenn er die Königin als Unperson behandelt, wenn er den Erzbischof von Canterbury wegen dessen Kritik an Gaveston absetzt und in den Kerker werfen läßt. Und schließlich steht auch seine blutige Rache nach Gavestons Ermordung der Gewalt der Verschwörer nicht nach. Auch die Schlußszene hat es in sich: bei Marlowe läßt der kindliche Edward III. Mortimer aus Rache für den Tod des Königs ermorden. Jarman zeigt den Tod des Königs nur als Traumfantasie; anschließend tanzt der junge Thronfolger geschminkt und schmuckbehängt auf einem Raubtierkäfig, in dem Mortimer und Isabella gefangen sind - eine ironisch-groteske homosexuelle Rache-Fantasie; gleichzeitig Warnung vor einem gesellschaftlichen Klima, dessen Gewaltbereitschaft gegen "Außenseiter" jederzeit in Gegengewalt umschlagen kann.

"Edward II" ist ein kontroverser Film und will nichts anderes sein. Daß es im letzen Jahr in Venedig "nur" zum Darstellerinnenpreis für die großartige Tilda Swinton gereicht hat, "riecht" von der unzweifelhaft starken Konkurrenz einmal abgesehen - nach einer Kompromißlösung der Jury. Jarmans formal konventionellster Film der letzten Jahre ragt aus dem alltäglichen Kino-Einheitsbrei allemal als visionäres Meisterwerk hinaus. Welcher andere Regisseur könnte in der Abschiedsszene des mittelalterlichen Königs und seines Geliebten plötzlich Annie Lennox aus den Kulissen zaubern und den Cole-Porter-Song "Everytime we say goodbye" singen lassen, ohne dabei peinlich zu werden?
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