Herausragender Stummfilm nach Erzählungen und Skizzen des Berliner Zeichners Heinrich Zille. Im Zentrum steht eine Witwe, die dem sozialen Elend lange trotzt, aber keinen Ausweg mehr weiß, als ihr Sohn auf die schiefe Bahn gerät. Die eindringliche Milieuschilderung aus dem Berliner Stadtteil Wedding weitet sich zur Beschreibung der Arbeiterbewegung Ende der 1920er-Jahre, wobei der Einfluss der Umwelt auf das Verhalten der Menschen in eindringlichen Bildern verdeutlicht wird. Das Filmmuseum München hat den Klassiker des proletarischen Films auf Basis des Originaldrehbuchs in HD restauriert und fehlende Sequenzen durch ergänzte Zwischentitel kenntlich gemacht; dabei setzt die neu komponierte, stilistisch an Jazz und Rock orientierte Musik differenziert und unaufdringlich Akzente.
- Sehenswert ab 16.
Mutter Krausens Fahrt ins Glück
Drama | Deutschland 1929 | 133 (fr. 104) Minuten
Regie: Piel Jutzi
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Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland
- Produktionsjahr
- 1929
- Produktionsfirma
- Prometheus
- Regie
- Piel Jutzi
- Buch
- Willy Döll · Johannes Fethke · Otto Nagel
- Kamera
- Piel Jutzi
- Musik
- Götz Wendlandt · Wolfgang Sternberg · Michael Gross
- Darsteller
- Alexandra Schmitt (Mutter Krause) · Holmes Zimmermann (Paul Krause) · Ilse Trautschold (Erna Krause) · Gerhard Bienert (Schlafbursche) · Friedrich Gnaß (Arbeiter Max)
- Länge
- 133 (fr. 104) Minuten
- Kinostart
- -
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Genre
- Drama
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Diskussion
Schauplatz des im Herbst 1929 von Piel Jutzi inszenierten Stummfilms ist das ehemalige Vergnügungs- und Arbeiterviertel Berlin-Wedding. Am Drehbuch, das nach einer Erzählung des Milieuzeichners Heinrich Zille entstand, arbeitete neben Willy Döll und Jan Fethke auch der Maler und Kommunist Otto Nagel mit. Nach der Uraufführung am 30.12.1929 wurde die 3.297 Meter lange Prometheus-Film-Produktion trotz ihres Erfolgs gekürzt und verändert. Sechs Wochen nach der nationalsozialistischen Machtergreifung kam es zum Verbot der weiteren Auswertung. Die 1957 von Otto Nagel für das Staatliche Filmarchiv der DDR wiederhergestellte Fassung war 450 Meter kürzer. Das Münchner Filmmuseum hat den Klassiker des proletarischen Films nun auf Basis des Originaldrehbuchs in HD restauriert und fehlende Sequenzen durch ergänzte Zwischentitel kenntlich gemacht. Die Musik dazu schrieb Michael Gross: Sie arbeitet stark mit Bläser- und Perkussionselementen, orientiert sich stilistisch an Jazz und Rock. Insgesamt wird der von HerrGross & das MutterOrchester eingespielte Soundtrack sympathisch sparsam und differenziert eingesetzt, ohne aufdringliche Vordergründigkeit oder Überinterpretation des Geschehens.
Der authentische, in der Endphase der Weimarer Republik mit 50.000 Reichsmark gedrehte Film kann seinen agitatorischen Charakter nicht leugnen. Der dokumentarische Einstieg zeigt die Mietskasernen und Kaschemmen, „die Welt der Geknechteten, der Arbeitsinvaliden“ und deren bescheidene Vergnügungen. Das Schicksal der im Jahr der Weltwirtschaftskrise unter bescheidenen Verhältnissen leidenden Arbeiterwitwe Krause und ihrer beiden erwachsenen, arbeitslosen Kinder Erna und Paul ist ein Aufschrei gegen die menschenunwürdigen Wohn- und Lebensbedingungen, ein Plädoyer für den solidarischen Klassenkampf. Ernas Freund, der (Straßen-)Arbeiter Max, demonstriert den kleinen sozialen Aufstieg. Die schöne Wohngegend, das große Zimmer mit einem schief hängenden, verstaubten Karl-Marx-Bild fallen der selbstbewussten, modernen Frau beim ersten Besuch sofort auf. Veränderungsbedürftig erscheint auch das Verhältnis von Mann und Frau: Max empfiehlt Erna das Buch „Die Frau im socialen Kampf“, während jene mit der Aussage „Hier fehlt die Frau“ eigene Wünsche anmeldet. Und der vom kleinkriminellen „Schlafburschen“ durch eine angebliche Affäre mit Erna getäuschte Max muss erst von einem „aufgeklärten“ Kameraden an die Kraft der Liebe erinnert werden. Im Haushalt der auf Ehre und Anstand setzenden Mutter Krause gelten die traditionellen Geschlechterrollen. Während sie selbst durch das Austragen von Zeitungen ab und an für ein warmes Essen sorgt, haut der Sohn in seiner Stammkneipe 20 Mark vom Abo-Geld auf den Kopf, sodass der Verlag eine Strafanzeige schickt. In ihrer Verzweiflung löst die alte Frau die Zuleitung des Gasofens und nimmt auch das Mädchen der bei ihr wohnenden Prostituierten mit in den Tod.
Anleihen bei russischen Revolutionsdramen ergänzt „Mutter Krausens Fahrt ins Glück“ durch ein authentisches Milieu und ausgezeichnete Laiendarsteller. Ästhetisch dominiert das Konzept des Kameramanns und Augenmenschen Jutzi, der stets das Primat des Bildes gegenüber dem Ton betonte. Die düsteren, von der Kamera von oben nach unten – fast etwas unbeholfen – abgefahrenen Wohnblocks scheinen aus anderen Arbeiten entlehnt, verfremden den Montage-Rhythmus. Gelungen sind milieukritische Assoziationen, wenn etwa vom Spielkreisel eines Mädchens auf das Karussell am Rummelplatz überblendet wird, oder die Berlinernde Sprache der Zwischentitel, um die jeweiligen Charaktere zu beschreiben. Indirekt reflektiert der Film auch die Auseinandersetzungen zwischen SPD und KPD. Jutzi realisierte für die vom kommunistischen Medienmogul Willi Münzenberg gegründete Internationale Arbeiterhilfe (IAH) schon seit 1920 kritische Dokumentarfilme; nachdem ihm die Prometheus Film das Projekt „Aufstand der Fischer“ nach Anna Seghers Roman entzog, kündigte er seine 1928 eingegangene KPD-Mitgliedschaft. Verbittert trat der unpolitische Regisseur im März 1933 der NSDAP und später der Reichsfachschaft Film bei. Als Vorläufer von „Mutter Krausens Fahrt ins Glück“ gelten Gerhard Lamprechts Filme „Die Verrufenen“ (1925, nach Zille-Motiven) oder „Menschen untereinander“ (1926). Carl Junghans’ Film „So ist das Leben“ (1929) lehnte die Prometheus Film wegen fehlender revolutionärer Tendenz ab. Bereits 1925 lieferte G.W. Pabst mit „Die freudlose Gasse“ eine aufrüttelnde Studie zur Depravierung des Bürgertums.
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