Die Tragödie eines Mannes, der Anfang der 20er-Jahre voller Zuversicht nach New York kommt, es jedoch nur zu einem bescheidenen Familienleben als kleiner Angestellter bringt. Als die Familie in den Sog der Wirtschaftskrise gerät und seine kleine Tochter überfahren wird, setzt der Abstieg des Mannes ein, der erst aufgehalten werden kann, als der desillusionierte Held seine Bedeutungslosigkeit akzeptiert. Bitterer Abgesang auf den amerikanischen Traum, der mit dem blanken Darwinismus kontrastiert wird, der nur den Stärksten ein Überleben in der Anonymität der Großstadt garantiert. Der romantisch-melancholische Sozialverismus des Film wirkte stilbildend und auch die Filmästhetik wies neue Wege - ein Meisterwerk des späten Stummfilms. (Alternativtitel: "Die Menge", "Ein Mensch in der Masse")
- Sehenswert ab 12.
Ein Mensch der Masse
Drama | USA 1928 | 104 Minuten
Regie: King Vidor
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Filmdaten
- Originaltitel
- THE CROWD
- Produktionsland
- USA
- Produktionsjahr
- 1928
- Produktionsfirma
- MGM
- Regie
- King Vidor
- Buch
- King Vidor · John V.A. Weaver · Harry Behn
- Kamera
- Henry Sharp
- Musik
- Carl Davis
- Schnitt
- Hugh Wynn
- Darsteller
- Eleanor Boardman (Mary) · James Murray (John Sims) · Bert Roach (Bert) · Estelle Clark (Jane) · Daniel G. Tomlinson (Jim)
- Länge
- 104 Minuten
- Kinostart
- -
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 12.
- Genre
- Drama
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Diskussion
Nach dem Antikriegsfilm „The Big Parade“ (1925) gelang King Vidor mit „The Crowd“ das zweite, international gefeierte Meisterwerk seiner Stummfilmzeit, ein Meilenstein der Filmgeschichte in ästhetischer wie inhaltlicher Hinsicht. Irving Thalberg und der MGM hatte er das Projekt als „‘The Big Parade’ in Friedenszeiten“ avisiert, obwohl seine Konzeption für die damaligen Verhältnisse eher zynisch gewirkt haben dürfte. Vidor drehte sieben verschiedene Schlüsse, die durch Previews getestet wurden. Zur um ein Jahr verschobenen Uraufführung am 18.2.1928 lieferte man schließlich zwei Varianten an die Kinos aus. Der prognostizierte Misserfolg blieb aus, der Film spielte seine Herstellungskosten ein und verbuchte sogar einen kleinen Gewinn.
Am amerikanischen Nationalfeiertag, am 4. Juli 1900, erblickt in der Provinz ein Junge das Licht der Welt. Nach dem Willen des Vaters soll John Sims einmal eine bedeutende Persönlichkeit werden. Das Familienoberhaupt verstirbt früh, und mit 21 Jahren geht John nach New York, um dort seinen Weg zu machen. Als kleiner Versicherungsangestellter heiratet er im Vertrauen auf eine bessere Zukunft die Arbeiterin Mary, die er beim Rendezvous in Coney Island kennen lernt. Die Flitterwochen verbringt das junge Paar an den Niagarafällen. Doch die Schwiegermutter und die beiden Schwäger blicken auf John verächtlich herab. Nach der Geburt von zwei Kindern führen die Sims’ ein bescheidenes, aber zufriedenes Familienleben. Im Schatten der beginnenden Wirtschaftskrise wachsen die finanziellen Sorgen. Die Beförderung bleibt aus, und die 500-Dollar-Prämie für einen erfolgreichen Werbeslogan reicht kaum für die Schulden. Als seine kleine Tochter von einem Lastwagen überfahren wird, setzt Johns Tragödie ein. Er verliert die Arbeit, scheitert als Vertreter und wird von Mary auf Drängen ihrer Familie verlassen. Vom Selbstmord durch seinen Sohn abgehalten, wagt der Gescheiterte einen neuen Versuch als Reklameträger, der im Clownskostüm in der Menge untertaucht. Mary kehrt daraufhin zu ihm zurück, und im Varieté vergessen sie ihr Schicksal für einen Augenblick, indem sie mit dem Publikum lachen.
„The Crowd“ gilt mit seinem romantisch-melancholischen Sozialverismus als Vorbild des italienischen Neorealismus. Vittorio De Sica sah in Vidors Film einen unmittelbaren Vorläufer zu „Fahrraddiebe“ (fd 1271), und Roberto Rossellini lobte dessen Wahrheits- und Realitätsgehalt. Die Chronik eines einfachen, kleinbürgerlichen Mannes dokumentiert die innere Befindlichkeit einer Gesellschaft im Umbruch. Die im Deutschland der 20er-Jahre entstandenen Straßen- und Stadtfilme – Murnaus „Der letzte Mann“, Duponts „Varieté“, Pabsts „Die freudlose Gasse“ oder auch Langs „Metropolis“ mit dem Gegensatz von Masse und Individuum – können in diesem Kontext gesehen werden. Nicht von ungefähr verwiesen Kritiker auf den Einfluss von Murnaus und Duponts beweglicher Kamera, den expressionistischen Inszenierungsstil und eine stilisierte, kammerspielartige Tendenz in „The Crowd“. Die vielzitierte Exposition mit der Ankunft des Helden in New York sorgte für eine wegweisende Filmästhetik: Eine Gruppe von Menschen betritt und verlässt ein Hochhaus. Die Kamera fährt an einem Wolkenkratzer, dem Versicherungsgebäude, hoch, konzentriert sich auf ein Fenster, zoomt in ein Großraumbüro, fährt über Schreibtische und an Menschen vorbei auf Platz Nummer 137 zu, John Sims’ Arbeitsplatz. Hier wagt sich jemand an die Desillusionierung des amerikanischen Mythos’ und Fortschrittsglaubens, der dem Einzelnen den unbegrenzten Aufstieg offeriert. Am Ende steht die Aussage, nur in und als Teil der Masse kann sich das assimilierte Individuum einen gewissen Freiraum bewahren. Das ernüchternd deprimierende Resümee wirkt wie ein Schlag ins Gesicht der glanzvoll besungenen „Roaring Twenties“. Es beinhaltet aber keine gesellschaftspolitische Analyse oder Anklage, vielmehr dominiert eine authentische Momentaufnahme ohne Larmoyanz oder Melodramatik. Die Anonymität der Großstadt und die sozialen Umstände stürzen Sims in die Verzweiflung, fast in den Selbstmord. Es regiert blanker Darwinismus, der nur das Überleben der Stärksten zulässt. Trotz der Werbeslogans existiert kein Vertrauen in den wirtschaftlichen Optimismus: Gewährt man Amüsement als Belohnung für einen immer schärferen kapitalistischen Wettbewerb? Die urbanen Lebensbedingungen, die Vorboten der New-Deal-Politik führen zu Monotonie und Isolierung. Beim Unfalltod seiner Tochter scheint die Menge für Sims keine Gefühle zu haben. Der moderne, chaplineske Jedermann repräsentiert den gesellschaftlichen Wandel, den Gegensatz von Stadt und Land. Als ein Niemand bleibt Sims auf der Verliererstraße, er wird kein strahlender Sieger made in Hollywood. Erst am Ende, wenn der desillusionierte Held seine Bedeutungslosigkeit akzeptiert, findet Versöhnung statt. Carl Davis’ musikalische Untermalung des Films trifft die Atmosphäre der 20er-Jahre außergewöhnlich gut.
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