Kommissar Maigret stellt eine Falle

Romain Antony | 14.09.2023

- und eine Gelegenheit auch mal über den Krimi-Tsunami im TV herzuziehen. cf. auch: www.filmekommentieren.wordpress.com Ein Frauenmörder ist unterwegs, Maigret hat schnell einen verdächtigen im Visier, sucht nach Beweisen, um ihn zu überführen. Er beschuldigt zuerst einen Falschen, um den wahren Täter zu provozieren, was allerdings nicht zum Erfolg führt. Die Falle im Film besteht dann darin, dass einige Judo und Jiujitsu affine Polizistinnen als Lockvogel für den psychopathischen Frauenmörder in den düsteren Straßen des Pariser Viertels Marais promenieren mussten (= der Sumpf, im 13. Jh. nicht nur sumpfig feucht, später auch lt. Victor Hugo im 19. Jh. anrüchig: „Zigeuner, entlaufene Mönche, versumpfte Studenten, Schurken aller Nationen, wie Spanier, Italiener, Deutsche, und alle Religionen, Juden, Christen, Mohammedaner, Götzenanbeter, am Tag bettelnd, nachts als Räuberbanden ausschwärmend…“ aus: Der Glöckner von Notre Dame“), ein Vorgehen, welches fassungslos macht bezüglich seiner Einfältigkeit und Verantwortungslosigkeit. Doch fast hätte es geklappt, aber der Täter entwischt in den engen Gassen, trotz im Großeinsatz herum jagenden und schrillerpfeifenden Flics. Irgendwo gibt es einen Unterschlupf, eine unbewachte, unbekannte Tür, durch die der Mörder entweichen konnte. Jean Dessailly spielt den Triebtäter, eine Psychopathenfigur, dem Lehrbuch der Alltagspsychiatrie entsprungen, mit überbehütender, die Perversionen des Sohnes ignorierender Mutter. Der Hass auf die erdrückende Mutterliebe bricht sich Bahn und richtet sich gegen Frauen, die stellvertretend für die Mutter umgebracht werden. Natürlich wird im Plot die Mutter für die pathologische Triebentwicklung verantwortlich gemacht, eine patriarchalische Psychologie der post-psychoanalytischen Zeit findet hier seinen Einzug ins Filmdrehbuch. Das scheint so einfach und schlüssig zu sein, wie der Plot aufbaut ist und wie daraus manche Stammtisch- und Kaffeerunden-PsychiaterInnen ihr Bild von psychischer Erkrankung konstruieren, so dass dem Vorurteil von der Gefährlichkeit psychisch kranker Menschen wieder Vorschub geleistet wird. Wir kennen das zur Genüge aus diversen Serientäter-Filmen in denen die Psychopathologie bemüht wird, mit der Vermarktungsabsicht die Eine-nach-dem-anderen-Abschlachterei mit etwas „Begründbarem“ zu unterfüttern. Im Vergleich zu heutigen filmischen Darstellungen und Splatterszenen hält sich Delannoy zeitgemäß mit Brutalitätsdarstellungen zurück. Bei seinem letzten Mordversuch wird das Opfer ohnmächtig, ehe es zum Schluss gerettet werden kann. Das Vorführen von Todesangst, verzweifeltem Ringen ums Leben, blutende Verletzungen und klaffende Wunden wird vermieden. Es ist nicht die Absicht von Krimis und Thrillern der 50er bis in die 70er Jahre gezielte voyeuristisch angelegtes Morden, Slashen zu zeigen. Die Spannung baut sich auf über die Suche nach dem Täter, über Irrwege und Sackgassen der polizeilichen Ermittlung. Das „Whodunit“ steht im Vordergrund, nicht die Art und Weise, wie sich Taten vollziehen. Der Roman von Simenon wurde fünfmal verfilmt, erstmalig mit Gabin. Und wer ist der wahrhaftigste Darsteller des Kommissar Maigret? Für den Autor Georges Simenon (75 Romane um den Kommissar) ist es Pierre Renoir, der im Film „La nuit du carrefour / Nachts auf der Kreuzung“ (1932) (nach dem Roman „Maigret und der Mann von Welt“, erschienen auf deutsch bei Kiepenheuer und Witsch, 1965) den Mord an einem Diamantenhändler aufklären muss. Regie führte im „Carrefour“ sein Bruders Jean Renoir (beide Brüder sind Kinder des impressionistischen Malers Pierre-Auguste Renoir). Aber Simenon schätzte auch die Interpretationen von Michel Simon (1952) und natürlich die von Jean Gabin (1957-1958, 1959, 1963), der den Kommissar mehrmals darstellte. Bezüglich der Interpretation von Madame Maigret ist er voller Bewunderung für die Darstellerin Tomomi Sato, die mit Kinya Aikawa eine japanische Maigret-Ehe führte. Weitere Maigrets: Abel Taride (1932), Harry Baur (1933), Albert Préjean (1943,1944,1945), Charles Laughton (1952), Maurice Manson (1956), Basil Sydney (1959), Louis Arbessier (1960), Ljuba Tadic (1963), Heinz Rühmann (1966), Gino Cervi (1966), Boris Tenin (1974), Richard Harris (1988), Vladimir Samoilov (1992), Sergio Castellitto (2004) et finalement Gérard Depardieu (2022) ...und als Serienermittler: Rupert Davis (1960-1963, 52 Folgen), Jan Teulings (1964-1965, 6 Folgen), Kees Brusse (1967-1969, 12 Folgen), Gino Cervi (1964-1969, 16 Folgen), Jean Richard (1967-1990, 88 Folgen wow!), Kinya Aikawa (1978, 25 Folgen) Bruno Cremer (1991-2005, 54 Folgen), Michel Gambon (1992-1993, 12 Folgen), Rowan Atkinson (2016-2017, 4 Folgen). Dabei habe ich sicher einige nicht auf dem Schirm…wer es genau haben möchte klicke auf: https://www.trussel.com/maig/maigfilm.htm (letzter Aufruf 01.09.2023). Dort werden 35 Maigret-Interpreten gelistet. Die Musik im Film stammt vom Komponisten und Liedermacher Paul Misraki (über 100 Filmmusiken); das Chanson im Film „Ça ne sert à rien“ wird gesungen von Paule Desjardin https://www.youtube.com/watch?v=wL1bswd-vq4 (letzter Aufruf 01.09.2023 (2. Platz im Grand Prix Eurovision de la chanson = European Song Contest, nahm 1957 in Frankfurt teil mit einem anderen Lied, „La belle amour“) Heutzutage kommt kaum ein Thriller ohne Blick auf Leiche und /oder Todeskampf aus. Ein Blick auf das heutige TV-Programm (SZ-Übersicht vom 01.09.2023) ergibt (mit ORF2, ohne Pay-TVs und ohne die Actionfilme à la „Taxi Driver“ (Scorsese), „Fliegendes Auge“ (Badham), „Non Stop“ (Collet-Serra) u.a.) etwa über 40 Krimis und Thriller mir einem Zeitvolumen von ca. 2680 Minuten, an diesem Freitag. Natürlich sind darin die Rentnercops mit Hubert und dem Staller mit enthalten, die bei manchen als Familienunterhaltung durchgehen. Das Angebot beläuft sich auf über 44 Stunden. Da ist doch für jeden die passende Ermittlercrew dabei, bei den mindestens über 40 Toten, den mindestens über 40 Mördern, vielleicht auch die eine oder andere Mörderin darunter, den Schüssen, Verfolgungsjagden, dem Schleichen um Ecken in Zimmern, in Keller in Industriebrachen, mit beidhändig gefausteter Pistole, den umkrampften Kaffeebechern während der Teambesprechung, mir den literarisch hochwertigen Dialogen, wo man gewesen sei zwischen 5 und 7 (Cleo im Film von Agnes Varda weiß es, sie flaniert durch den Park, die Stadt auf ihren medizinischen Befund wartend, ein Krimi, der kein Krimi ist). In der Süddeutschen Zeitung vom 26./27. November 2022 hat Moritz Borchers einen hervorragenden Text zu dieser Thematik veröffentlicht mit Collagen von Felix Hunger unter dem Titel: „Peng! Warum verbringen Menschen ihre Freizeit mit schaurigen Filmen über Serienmörder und Killer-Kartelle - und wie wirkt sich das auf die Psyche aus? Überraschende Einsichten aus der Forschung.“ stichwortartig zusammengefasst: - morbide Neugier, - sie sprechen evolutionäre Archetypen an, die vor Bedrohungen schützten und dabei halfen potenzielle Bedrohungen vorweg zu nehmen) Des weiteren: - Angstlust, Angstaufbau und Angstbewältigung mit endomorphiner Hormonausschüttung, - Erleichterung und Beruhigung nach einem zufriedenstellenden Filmende) Von Kindern wissen wir, dass sie nach Sicht eines Films mit Action - und Ballerszenen, verstärkt gewalttätige Spielabläufe bevorzugen und aus Befragungen wird ersichtlich, dass sie keine Gewaltdarstellungen brauchen, um sich gut unterhalten zu fühlen. Wofür könnte man die Sendezeit von über 44 Stunden nutzen? Für Information, für Bildung? Nein Tiersendungen und die gefährlichsten Schulwege der Welt sind keine weiterbringenden Bildungssendungen, auch nicht Berichte über das wilde Patagonien bis hin zu den wilden Lofoten. Aber wir haben ARD-Alphard-Alpha für die Bildung und ab und zu Scobel. Sollte doch reichen, oder? Schließlich sollten die öffentlich-rechtlichen doch auch unterhaltsam sein, gut geht das mit Krimis. Das sagen die IntendantInnen und anscheinend auch die Befragungen der ZuschauerInnen. Wirklich? Mich würde eine Studie sehr interessieren über das Krimikonsumverhalten der FernsehnutzerInnen in Deutschland, evtl. begleitet von Tiefeninterviews über ihre Erwartungen, ihr Erleben beim Krimischauen und darüber wie sie ihre Befindlichkeit im Nachgang beurteilen.