Jugendfilm | Großbritannien 1980 | 95 Minuten

Regie: Franco Rosso

Das Leben junger farbiger Reggae-Musiker im Londoner Stadtteil Brixton, die in Hinterhöfen auf selbstgebauten Anlagen ihre Musik spielen und miteinander in Wettbewerb treten. Anhand einer kleinen Spielhandlung zeigt der Film mit größtmöglichem Realismus ein vielschichtiges Bild ihrer Sozialstruktur und ihrer Lebensbedingungen, geprägt von Vorurteilen und Rassenhass, den Gegensätzen zwischen proletarischem englischen Stadtgeschehen und jamaikanischer Lebensweise. Ein kraftvolles, visuell bestechendes Porträt einer kulturellen Minderheit, deren Sprachrohr die Musik ist. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
BABYLON
Produktionsland
Großbritannien
Produktionsjahr
1980
Produktionsfirma
Diversity/Chrysalis/National Film Finance Corporation
Regie
Franco Rosso
Buch
Franco Rosso · Martin Stellman
Kamera
Chris Menges
Musik
Denis Bovell · Aswad · Yabbi Y · Cassandra · I-Roy
Schnitt
Thomas Schwalm
Darsteller
Brinsley Forde (Blue) · Trevor Laird (Beefy) · Karl Howman (Ronnie) · Brian Bovell (Spark) · Victor Romero Evans (Lover)
Länge
95 Minuten
Kinostart
18.01.2024
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Jugendfilm | Musikfilm
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Das Leben jugendlicher Reggae-Musiker im Londoner Stadtteil Brixton, die in Hinterhöfen auf selbstgebauten Anlagen ihre Musik spielen. Anhand einer kleinen Spielhandlung zeichnet der Film ein vielschichtiges Bild ihres von Vorurteilen und Rassenhass geprägten Alltags.

Diskussion

Der Anfang ist reines Tempo. Zwei Jungs rennen durch die Stadt, ein dreckiges London nahe dem Bezirk Lewisham. Sie schwenken große Taschen und lachen, während sie sich durch den Verkehr drängeln, als gäbe es auf diesen Straßen nichts, auf das sie aufpassen müssten. Einer von ihnen, Ronnie (Karl Howman), ist weißer Brite, der andere, Blue (Brinsley Forde), ein jamaikanischer Brite; für ihn ist das so ziemlich der einzige Moment in „Babylon“ von Franco Rosso, in dem er nicht aufpassen muss.

Das Ziel der beiden ist eine Party, ein öffentlicher Raum voll tanzender Teenager. Hier sieht man all die Jungs, die man im Lauf des Films kennenlernt, alle mit jamaikanischen Wurzeln. Sie sind das Dub-Soundsystem „Ital Lion“, das am nächsten Sonntag bei der „Grand Battle of the Sounds“ gegen „Jah Shaka“ antreten wird; Jah Shaka war tatsächlich eines der wichtigsten „Soundsystems“ der Londoner Reggae-Szene in den 1980er-Jahren. Beim Wettbewerb werden Reggae-Platten gespielt, der Sound mit einem Mischpult verändert und über ein Mikro mit spontanem Gesang bestückt; am Ende gewinnt das Soundsystem mit der besten Improvisation.

Eine weit entfernte Zeit

Während die Musik die Dancehall-Besucher beglückt, macht man beim Zusehen eine Zeitreise an den Anfang der 1980er-Jahre. Die Männer tragen Hüte, Kappen, weiße Hemden; bis auf Blue findet man kaum jemanden mit Dreadlocks. Ronnie ist der einzige Weiße im Raum; er ist auch derjenige, der das Marihuana nicht verträgt. Das Milieu wirkt so, als befände man sich in einer Geschichts-Doku; ein Gefühl, das sich den Film über immer wieder einstellt. Auch die hässlichen Stadttotalen, mit schwarz angelaufenen Zügen auf Viadukten, wirken fremd von unserer sauberen, durchgentrifizierten Gegenwart aus, die von den 1980er-Jahren weiter weg ist als die Schulter des Orion.

Nicht ganz so fremd ist die herrschende Xenophobie, ein Thema damals wie heute, nicht bloß im Vereinten Königreich. Hier allerdings sieht man die Härte, mit der in der frühen Thatcher-Ära diese Haltung ganz selbstverständlich zum Ausdruck gebracht wurde. Die weißen Londoner sagen in „Babylon“ in jedem Satz „Urwaldaffen“, sprühen Hakenkreuze und fordern ihre karibischen Mitbewohner auf, „heim nach Afrika“ zu gehen. Dass diese eine britische Staatsangehörigkeit haben, weil sie aus der ehemaligen Kronkolonie Jamaika stammen, von der seit 1948 massenhaft Arbeitskräfte nach England geholt wurden, ist völlig egal.

Man stößt in „Babylon“ also auf Zeitgeschichte, bevor die Story überhaupt losgeht, wird durch soziopolitische Zusammenhänge geführt, sieht einen Bilderbogen zwischen weißem proletarischen Stadtgeschehen und schwarzer Subkultur. Im Anschluss an den Film könnte man eine kleine historische Forschungsarbeit beginnen oder zumindest alte Reggae-Platten suchen und anhören. Man kann sich aber auch einfach dem Film anvertrauen, der in loser Struktur den Alltag der Protagonisten zeigt, und darüber ein Stück Historie kennenlernen, wie sie früher oft passierte, im multiethnischen, rassistischen, gewaltaffinen, aggressiven London.

Eine Kette von Widrigkeiten

Blue, der eigentlich David heißt, hat in der Woche bis zum Band-Battle nichts als Ärger. Er fliegt bei der Autowerkstatt raus, in der er arbeitet, weil er Widerworte gibt. Er wird von Polizisten abgegriffen, grundlos verprügelt und wegen Widerstands inhaftiert. Das wiederum ist der Grund, warum seine Eltern ihm so viel Stress machen, dass er sein Zuhause verlässt. Die Weißen, die neben dem Proberaum von Ital Lion wohnen, brechen dort ein und zertrümmern das musikalische Equipment. Lediglich die Musik ist Trost und Ablenkung. Trotzdem ist es ein Wunder, dass Blue nicht schon viel eher ausrastet.

Bis es so weit kommt, sieht man ihn bei ein paar Vergnügungen, etwa bei einer Verlobungsfeier, für deren sanfte Stimmung der Film sich Zeit nimmt. Er zeigt die Protagonisten dieses eine Mal ohne Wut; man sieht sie mit Eltern oder Freundinnen tanzen. Der brillante Kameramann Chris Menges beobachtet die Bewegung der Jungs, mit der sie die Mädchen an sich ziehen, er schaut die Gesichter der Paare von Nahem an, die plötzliche Jugend darin, als hätten sie die Gewalt vergessen, die draußen auf sie wartet.

Draußen, da sind mehr verdreckte Straßen von London und die Kriminalität, die Rosso schön verteilt; da ist er nicht unbedingt auf Seiten der jamaikanischen Einwohner. Man hat ein bisschen den Eindruck, als wolle der Filmemacher einfach alles vorstellen, was deren Kultur nach London mitgebracht hat, egal ob es um aufstrebende Dealer geht oder um die Kirchen, die Rastafaris, die ordentlichen Eltern, die Subkultur und die Musik. Dabei ist der Film ungeheuer trocken; die Idee von Glamour ist noch weit entfernt von dieser Zeit. Das Einzige, was die Protagonisten pflegen, ist ihr persönlicher Style; der aber wird bis ins letzte Detail durchdacht.

Die Musik als Sprachrohr

Doch neben all seinen Schauwerten erzählt „Babylon“ noch von etwas anderem. Von einer Jugend, die sorglos ist im Angesicht der Gefahr, die Kraft genug hat, sich durchzusetzen und ihre eigene Geschichte zu bestimmen, gerade mit der Musik. Das ist eine meist amüsante, mitreißende Befreiung. Manchmal aber sorgt es für Wehmut, weil man erkennt, wie trotz allem irreparable Schäden entstehen. Früher oder später werden sie sich innerhalb des Milieus gegeneinander wenden – schwarz gegen weiß, jung gegen alt, Revolte gegen Langmut. Ungefähr da bleibt das letzte Bild von „Babylon“ auch stehen; es zeigt zwar den Widerstand der Helden, aber doch auch den Sieg der britischen Weltordnung.

Noch ein paar Sätze zur Geschichte des Films, soweit recherchierbar. „Babylon“ entstand in Großbritannien, nachdem die BBC zuerst mit an Bord war, dann aber wieder absprang. In Cannes sorgte der Film 1980 in der „Semaine de la Critique“ für Furore; einen solchen Blick auf London und dessen Reggae-Jugendkultur hatte man aus dieser Nähe noch nicht gesehen. Wenig später kam der Film in England ins Kino, danach ging er unter, nicht zuletzt, weil ihn das britische „Board of Film Censors“ mit einem „ab 18“ versah; das Zielpublikum war meistens jünger.

Für Jahrzehnte war „Babylon“ bloß eine Legende. 2009 erschien dann eine DVD; 2019 gab es die erste Kinoaufführung in USA, mit Untertiteln, um das Patois der Protagonisten verständlicher zu machen. Jetzt kommt er in der „Zeitlos“-Reihe des Verleihs Rapid Eye Movies in Deutschland wieder ins Kino.

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