Fluchtweg nach Marseille

Dokumentarfilm | BR Deutschland 1977 | 210 Minuten

Regie: Ingemo Engström

Eine vielstimmige Dokumentar-Collage über die Emigration von Flüchtlingen vor dem NS-Regime während des Zweiten Weltkriegs, orientiert an Anna Seghers’ Fluchtroman „Transit“. Angelehnt an Bertolt Brechts „Arbeitsjournal“ entsteht eine Form, die Seghers’ Vorlage nicht einfach ins Filmische überträgt, sondern um Bilder und Archivaufnahmen erweitert und versucht, nicht nur das Thema der Fluchterfahrung, sondern auch die Grenzen seiner Darstellerbarkeit zu umkreisen. Grundmodus des Essays wird so die Reflexion der eigenen Mittel, von der Montage bis zur Schauspielführung. In all seiner Nüchternheit ein mitreißender Film. - Sehenswert 16.
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Filmdaten

Produktionsland
BR Deutschland
Produktionsjahr
1977
Produktionsfirma
Theuring-Engström
Regie
Ingemo Engström · Gerhard Theuring
Buch
Ingemo Engström · Gerhard Theuring
Kamera
Axel Block · Melanie Walz
Musik
Pablo Casals
Darsteller
Katharina Thalbach · Rüdiger Vogler
Länge
210 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert 16.
Genre
Dokumentarfilm | Literaturverfilmung
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Verleih DVD
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Diskussion

Wer flieht, hinterlässt Spuren. Die meisten sind schnell verschwunden: Fußabdrücke, aufgewirbelter Staub, Gedanken und Stimmungen. Andere haben Bestand: Fotografien, Filme, Notizen, Bücher, Karten, Graffiti, Briefe, in den schlimmsten Fällen Gräber, Gedenktafeln und Mahnmale. Erinnerungen, denen man eine physische Form gegeben hat. Das Dokument- und Dokumentar-Essay „Fluchtweg nach Marseille“ von Ingemo Engström und Gerhard Theuring arbeitet daran, das im doppelten Sinne Flüchtige mit dem Dauerhaften in Beziehung zu setzen. Das Ephemere im Beständigen wieder sichtbar zu machen, und umgekehrt. Der volle Titel des Films – „Fluchtweg nach Marseille - Exodus & Résistance - Bilder aus einem Arbeitsjournal (1977) zu dem Roman ‚Transit‘(1941) von Anna Seghers“ –  stellt seine zwei zentralen Bezugspunkte aus. Einerseits Anna Seghers’ großen Fluchtroman, andererseits Bertolt Brechts ausufernde Arbeitsjournale.

Freilegen von dem, was unter den vertrauten Bildern steckt

Brechts Sammlung von Notizen, Fotos und Zeitungsartikeln macht seine Arbeit sichtbar. Auch „Fluchtweg nach Marseille“ reflektiert durchgehend seine Entstehung. Immerzu geht es um Fragen von Darstellbarkeit, um das archäologische Freilegen dessen, was unter den vertrauten Konfektionsbildern begraben liegt. „Die Vermarktung von Literatur in Formen veralteten Kinos ist uns Gegenstand gewesen der Verachtung nicht erst seit kurzem“, schreiben Engström und Theuring im Magazin „Filmkritik“ im Jahr 1978. Sie sind nicht nur auf der Suche nach Spuren der Flucht, sondern auch nach Formen für sie.

So wird dann ein Prozess zum Thema. Seghers’ „Transit“ wird nicht verfilmt, sondern die Auseinandersetzung mit dem Stoff in Bilder gefasst. Die Reisen entlang der einstigen Routen des europäischen Exodus nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten, die Aufnahmen in Paris, Marseille, Vichy, Orléans, Port Bou oder Izon. Die Gespräche mit Zeitzeugen wie Vladimir Pozner, Ernst Erich Noth oder Alfred Kantorowicz, die Recherche in „Bibliotheken, Fototheken, Filmarchiven“. Die gelesenen Bücher von Walter Benjamin, Simone de Beauvoir oder Lion Feuchtwanger und die gesichteten Materialien werden vor der Kameralinse platziert. Schon allein im Ansammeln dieser Materialien liegt ein Wert.

Wieder eine Sprache finden, die nicht vergiftet ist

Es ist ein vielstimmiger Film. Passagen aus dem Roman werden von Katharina Thalbach und Rüdiger Vogler vorgetragen. Einerseits spielen sie ihre Rollen, andererseits denken sie vor der Kamera über ihre Figuren nach. In einer einnehmenden Sequenz erzählt Thalbach vom Rücksitz eines Autos die Geschichte des Romans nach, mit einer Dringlichkeit, als wäre schon im groben Plot jeder wohlgeformte Satz enthalten. Als grüblerisch-poetische Erzähler sind Reinhart Firchow und Hildegard Schmahl zu hören. Ihre Voiceover sind von einem literarischen Ton, der ganz anders klingt als etwa das schnarrend-zackige Triumphgeheule der Wochenschauen, die immer wieder eingespielt werden. Neue Formen suchen heißt hier also auch, wieder eine Sprache zu finden, die nicht vergiftet ist.

Der Film will nicht vollständig oder gar abgeschlossen sein, schon der Bruch zwischen seinen beiden klar getrennten Teilen zeugt davon. Er ist eher ein Bauplan für das Verstehen, tausend Fußnoten, eine Schatzkarte der Orte und Ideen. Um Seghers’ geisterhafter Liebesgeschichte gerecht zu werden, fixiert man sich auf das Abwesende, auf Lücken in der Welt. Das Verlorene und aus der Geschichte Geraubte.

Eine Landschaft zu filmen bedeutet hier, sie mit ihrer Vergangenheit aufzuladen. Jeder Schnitt erzählt von dem, was fehlt. Wichtiger als die passenden Puzzlestücke sind jene Elemente, die sich nicht fügen wollen. Das Mehr, der freigelegte Überschuss. Es gilt, mit den Wunden zu arbeiten, die sich niemals schließen werden. Ein klares, eindeutiges Bild können die Vergangenheitstrümmer nie ergeben. Wenn zu Beginn des Films von der Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 zum nächtlichen Paris im Jahr 1977 geschnitten wird, dann sind da vor allem die Verbindungen zwischen diesen Bildern, die wir selbst schaffen.

Ungleiches Material kommuniziert

In einer Sequenz wird im Voiceover vom lachenden Chor des Volks erzählt, der alle historischen Ereignisse begleitet; dann wird ohne jeden Ton Hitlers Gang durch das leere Paris präsentiert. Die Stille fordert auf, selbst zu diesem Chor zu werden. Und apokalyptische Ruinenbilder, die von sanfter Geigenmusik begleitet werden, lassen an das Bild von einem Fiedler denken, der verloren zwischen den Trümmern steht. Der Film ist von einer nüchternen Dramatik, prosaischer Lyrik und sachlichem Pathos.

Ungleiches Material kommuniziert. Stumme Fotografien werden in der Montage lebendig, umgekehrt gefrieren Filmaufnahmen zu Schwarz-weiß-Bildern. Bücher werden wie Zwischentitel benutzt, in Bücher gelegte Fotos unterstützen ihre Beweisführung. Die suchende, poetische Form wird zum Argument für sich selbst.

Natürlich ist da noch ein weiterer zeitlicher Abgrund, nämlich der zwischen 1977 und 2023. Manches Assoziationsangebot scheint heute kurios. Gerade da, wo die Kriegsjahre allzu angestrengt in eine längst vergangene Gegenwart gestreckt werden. Einmal geht es um das Kernkraftwerk Creys-Malville und den Reaktor Superphénix. 1977 protestieren 60.000 Franzosen gegen den Bau der Anlage, Bereitschaftspolizisten zerschlagen die Demonstrationen und töten einen Mann. Engström und Theuring lassen auf einen Artikel darüber das Bild einer Nazi-Flagge folgen. Im Voiceover stellen sie dann „Zentren der Geheimhaltung“ nebeneinander: Brokdorf und Creys-Malville, Mauthausen, Dachau und Auschwitz.

Das Material reicht nie aus, um den Abgrund der Zeit zu überbrücken

Ein mehr als fragwürdiger Vergleich. Aber ein weiteres Argument für die eigentliche These des Films, dass jede Rekonstruktion der Geschichte wohl daran täte, eher die Grenzen der eigenen Perspektive zu betonen, als klare Kontinuitätslinien durch die Zeit zu ziehen. Auch die Wege der Flucht verlieren sich, werden anderswo wieder aufgenommen, wandeln sich von einer Bewegung zum Zustand. Das Material reicht nie aus, um den Abgrund der Zeit zu überbrücken, aber es kann zumindest seine Dimensionen greifbar machen – und vielleicht den Sturz verhindern.

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