Im Stuttgarter Kunstmuseum ist derzeit die Installation „The Clock“ zu sehen, die 24 Stunden lang Szenen aus Kinofilmen aneinanderreiht, in denen Uhren eine Rolle spielen. Oder die Zeit in anderer Form thematisiert wird. Das Spektakel von Christian Marclay wird seit der Premiere im Jahr 2010 gepriesen, doch kaum jemand dürfte sich ihm in seiner Gänze ausgesetzt haben. Das Schauen setzt dabei eigene Assoziationen zum Verhältnis von Kino und Zeit, der Vielfalt der filmischen Zeit-Darstellung und ihren Grenzen frei. Die Analyse eines Selbstversuchs.
Um kurz vor sieben Uhr am Morgen kehre ich zurück in den Kinosaal des Kunstmuseums Stuttgart. Ich hetze durch die verwaiste Fußgängerzone, um möglichst wenig zu verpassen. Als wäre da etwas zu verpassen, außer der Zeit selbst. Auf meinem Weg vom Hotel bis zum Museum sehe ich zwölf Uhren. Sie sind überall. Ein Traum, ein Albtraum. Im Museum ist es ruhig. Fünf oder sechs Gestalten fläzen sich auf den vor der Leinwand aufgestellten Sofas, zwei von ihnen schlafen. Ich bin noch zu müde, um gleich zu begreifen, was sich auf der Leinwand abspielt, aber ich merke, dass es erheblich gemächlicher zugeht als am Abend zuvor, um Mitternacht beispielsweise, wenn Morde geschehen und Werwölfe auftauchen im Kino.
Jetzt wirkt die Kinowelt sanft und friedlich. Ein wenig so,
als würden auch die Filme langsam aus dem Grauen der Nacht erwachen. Erst ein
Montage-Crescendo aus schrill läutenden Weckern durchbricht die Stille. Zwei
bis drei Stunden werden fortan mit Weckern auf der Leinwand verbracht. Manche
von ihnen werden wütend zerschlagen oder aus dem Fenster geschleudert, aber die
Zeit schreitet trotzdem unerbittlich voran. Was machen Figuren in Filmen am
frühen Morgen? Sie wachen auf, duschen und rasieren sich. Sie drehen sich
nochmal um und schlafen weiter. Sie frühstücken, kochen Kaffee. Sie kommen nach
einer Nachtschicht nach Hause. Sie erschießen einen Zombie. Eigentlich nichts
Besonderes. Eigentlich verhalten sie sich so, als wären sie lebendige Menschen.
Das könnte Sie auch interessieren:
- Stop Motion. Über die Praxis, Filme nicht mehr zu Ende zu sehen
- Kino im Elfenbeinturm. Das Kino und die Kunst des Sehens
- In your Mind. Benjamin Heisenberg und „Americana“
Der schlecht gelaunte Harrison Ford
Thom Andersen hat über eine Vorführung von Christian Marclays „The Clock“ im Juli 2011 in Los Angeles geschrieben: „Das Beste an ‚The Clock‘ ist das erste Bild, das man bemerkt, wenn man ins Kino kommt, und das letzte Bild, bevor man das Kino verlässt.“ Das erste Bild an diesem Morgen, das mir bleibt, ist der gewohnt schlecht gelaunte Harrison Ford. Er wacht auf und schaut auf die Uhr. Ich schaue auch auf die Uhr: Synchronizität. Harrison Ford lebt in der gleichen Zeit wie ich. Das beruhigt mehr, als es beunruhigt. Immerhin, denke ich, kann ich so leichter daran glauben, dass es diese andere Welt wirklich gibt, diese intensivere, abstraktere Welt des Kinos. Sie hat etwas mit meiner Welt zu tun. So geht das vierundzwanzig Stunden.
Das Prinzip von „The Clock“ ist leicht erklärt und dennoch komplex. Eine enthusiastische Frau, die mit mir vor Beginn der 24-Stunden-Vorführung in der Schlange steht, erklärt es wiederholt: „Das ist eine Video-Collage mit Szenen aus der Filmgeschichte, und in den Szenen hat es immer die gleiche Uhrzeit wie im echten Leben.“ Sie erzählt, dass sie bereits in London und Zürich größere Abschnitte der Arbeit gesehen hat. Jetzt wäre sie da, um die vierundzwanzig Stunden zu komplettieren und so alles gesehen zu haben.
Hinzuzufügen ist, dass die Zeit in „The Clock“ manchmal mit Aufnahmen von Uhren, manchmal im Dialog und manchmal als reine Behauptung thematisiert wird (Marclay hat hie und da geschummelt). Die ausgewählten Sequenzen hängen oft auch thematisch zusammen, am frühen Abend folgt man etwa verschiedenen Szenen in Konzertsälen und später dann merkwürdigerweise vielen gebratenen oder in Mikrowellen erhitzten Hähnchen. Aber gut, das Kochen und Erhitzen arbeitet letztlich auch mit der vergehenden Zeit. Außerdem wird in den ausgewählten Szenen oft über die Zeit gesprochen. Man kann also sagen, dass es sich um eine Arbeit handelt, die von der Omnipräsenz der Zeit im Kino (und im Leben) erzählt. Eine Meta-Filminstallation, wenn man so möchte.
Theoretische vierundzwanzig Stunden
An zwei Terminen bietet das Kunstmuseum in Stuttgart die Möglichkeit, dem erstaunlich unterhaltsam geschnittenen Spektakel, das 2010 im Londoner „White Cube“ Premiere feierte, vierundzwanzig Stunden beizuwohnen. Zumindest theoretisch, denn aus dem Dunkel des Saals springt regelmäßig die Museumsaufsicht hervor, um Besucher am Trinken oder Essen zu hindern. Verlässt man den Saal kurz, muss man sich erneut in eine Schlange stellen, die zumindest am Abend lange nicht abreißt. Ein Paradox: Ein Projekt, das behauptet, man könne im Kino leben, und eine Projektion, die einem klarmacht, dass das nicht erlaubt ist. Insgesamt sehe ich zwölf Stunden, wobei ich vor einigen Jahren bereits vier weitere Stunden in London gesehen habe. Bislang habe ich die Stunden zwischen zwei und sieben Uhr verpasst und die zwischen dreizehn und sechzehn Uhr.
Ich würde aber behaupten, dass die Zeit, die man außerhalb des Kinos verbringt, auch zur Filmerfahrung beiträgt. Gerade das Wieder-Reinkommen zählt zu den schönsten Momenten, die man mit „The Clock“ verbringen kann. Plötzlich stellt sich so etwas wie Parallelität ein, man bekommt das Gefühl, dass das Kino geblieben ist, während man weg war, und dass es für einen immer läuft, wenn man es braucht. Ein Ort der Zuflucht, an dem es zwar die gleiche Uhrzeit gibt, aber nicht unbedingt die gleichen Probleme.
Das Sehen dieses Films hat nichts mit dem zu tun, was mir sonst im Kino widerfährt. Vielmehr erlebe ich die Stunden im Kino wie in einem „Rabbit Hole“ im Internet. Ich will immer weiter schauen und weiß gar nicht weshalb. Ein Begehren entsteht, ein Begehren, das immer auf das Kommende gerichtet ist, auf das Weitergehen, das Fortdauern, dem, was folgt. Eigentlich sehe ich nichts Bestimmtes, nur ein Fortschreiten der Zeit. Komischerweise stellt sich beim Sehen immer dann eine Befriedigung ein, wenn die Digitaluhr umspringt, wenn ein Zeiger sich dreht. Als würde dieses Umschlagen der Zeit beweisen, dass es weitergeht und dass genau dieses Weitergehen das filmische Erlebnis ausmacht.
Das Kino liebt die vollen Stunden
Immer zur vollen Stunde verdichtet sich dann das Geschehen.
Countdowns setzen ein, Duelle werden ausgefochten, abfahrende Züge müssen
erwischt werden. Das Kino liebt die vollen Stunden. Dann setzt manchmal eine
regelrechte Attraktionsmontage ein, in der immer wieder Kirchenglocken und aus
Uhrengehäusen springende Kuckucke die volle Stunde ankündigen. Die meisten
Besucher bleiben zwischen einer und zwei Stunden. Viele gehen kurz nach einer
solchen vollen Stunde, gerade weil sie dann eine Art dramaturgischen Höhepunkt
erlebt haben. Wenn sie nur zwei Minuten länger bleiben, spüren sie jedoch
bereits, wie sich der nächste Höhepunkt ankündigt und dann wird es wieder
schwer, zu gehen.
Ich beobachte die Besucher fingernägelkauend wie in einem Thriller. Dabei gibt es keine Handlung im herkömmlichen Sinn. Es wird viel gelacht, auch weil die Arbeit pointiert geschnitten ist. Eine Szene, in der Peter Sellers verzweifelt versucht, seine Uhr zu synchronisieren, fungiert als Meta-Spaß. Bestimmte Schauspieler tauchen in verschiedenen Szenen zu ähnlichen Uhrzeiten auf und werden so zu Protagonisten bestimmter Phasen eines Tages, etwa Julianne Moore, die in mehreren Filmen rund um 19 Uhr auf ihre Partner wartet, für die sie gekocht hat.
Wenige Zuschauer liefern sich der Dauer und der damit verbundenen Repetition der Effekte aus, und ich kann es ihnen nicht übelnehmen. Nach zwei bis drei Stunden hat man begriffen, was der Film macht. Die Frage ist nur, ob man süchtig wird nach der Zeit, oder eben nicht.
Ich stelle mir die Frage, ob Marclay die Zeit im Kino fetischisiert oder das Kino die Zeit fetischisiert und Marclay das beweist in seiner Arbeit. Wahrscheinlich hat das alles gar nichts mit dem Kino zu tun und „The Clock“ zeigt vielmehr auf, wie sehr die Zeit unser Leben strukturiert. Phasenweise kämpfen die Figuren in den Filmen gegen die Zeit an, das ewige Ablaufen der gerade noch verbleibenden Zeit, die erbarmungslos tickenden Uhren, Sanduhren, Taschenuhren, Kuckucksuhren, Armbanduhren, Kirchenuhren. Der Mensch in „The Clock“ ist ein Abhängiger, ein Getriebener. Ich denke das und schaue auf die Uhr. Bald muss ich los, der nächste Termin wartet, auch mein Zug fährt ab. Marclay formuliert diese Kritik in seiner Montage nie aus. Sie ist einfach in der Masse an Bildern angelegt. Er will nichts sagen mit seinem Supercut, er will nur einer vorgegebenen Ordnung folgen, um Bilder zu sortieren. Das kann man einen Fetisch nennen, einen grundlosen Fetisch, vielleicht ist auch das Kino: Grundlose Fetische.
Der Schnitt lässt die Zeit verschwinden
So faszinierend und beeindruckend diese Arbeit auch ist, sie hat ihre Probleme, die ausgerechnet mit dem Verhältnis zur filmischen Zeit zu tun haben. Denn Marclays virtuoser Schnitt lässt die Zeit verschwinden. Es geht ihm weniger darum, das Vergehen der Zeit spürbar zu machen, als zu beweisen, dass die Zeit im Kino vergeht, ohne dass man es merkt, selbst wenn andauernd von der Zeit die Rede ist.
Was der Arbeit eigentlich fehlt, ist ein Gefühl für die
Materialität der Zeit, für die Dauer. Das fällt einem auf, wenn Marclay auch
Szenen aus Filmen von Tsai Ming-liang oder Béla Tarr verwendet,
zwei Filmemacher, die genau diese Materialität betonen.
In anderen Worten: Die Zeit, die in mir als Zuschauer existiert, mein Empfinden für Dauer, kann nicht synchronisiert werden mit der Filmzeit einer Collage, die so deutlich im Hinblick auf das Nach- oder Nebeneinander von Szenen geschnitten ist. Nie wird die Minute spürbar, immer nur ihr Drängen in die nächste Minute. Sogar Match-Cuts verbinden die Szenen aus verschiedenen Filmen und man fragt sich, wieso. Warum sollen zwei Szenen, die zur selben Uhrzeit stattfinden, auch visuell oder inhaltlich verbunden sein? Statt einem Gefühl von Gleichzeitigkeit entsteht ein Strom auseinander hervorgehender Bilder, die doch nichts miteinander zu tun haben. Man fühlt sich eben wie zwischen Links und beim Scrollen. Die Zeit wird totgeschlagen, aber die Bewegung ins Nichts setzt sich fort. Vielleicht auch, weil diese Form der Montage und der filmischen Wahrnehmung mit Hollywood in Verbindung stehen, gibt es vornehmlich englischsprachige Clips zu sehen. Das ist eine sowohl filmgeschichtliche als auch im Bezug auf die Zeit phänomenologische Reduzierung, die schmerzt.
Man kann die Zeiteinheiten, die unser Leben ordnen, nicht mit der Zeit selbst verwechseln, das übersieht „The Clock“. Das Kino war stets das Medium par excellence, um genau das zu beweisen. Man denke nur an die Minuten, die in einem Actionfilm vergehen können, während ein Zehn-Sekunden-Countdown läuft. Man denke an die Ewigkeiten, die ein Film dauert, in dem man sich langweilt. Zeit wird von Marclay weniger räumlich gedacht als vielmehr assoziativ und dadurch fast psychologisch. Die Zeit wird ein Zustand, in den man eintritt.
Soziologisch lässt sich dabei wenig ablesen. Eher lernt man von den Wirkweisen der Fiktionen. Dass um Mitternacht oder am Mittag viel passiert, ist eine Erfindung des Kinos. Die Wirklichkeit ist näher an Warhols „Sleep“ oder „Empire“ als an „The Clock“. Die von Marclay gesuchte Filmzeit verführt und manipuliert; er hätte auch jene wählen können, die auf der Welt lastet. Seine Arbeit ist an der Illusion von Zeit interessiert, nicht an Zeit. Eigentlich ist nichts flüchtig bei Marclay, alles scheint reproduzierbar, logisch auseinander hervorgehend. Es ist erstaunlich, aber in diesem Film über Zeit findet sich keine Melancholie.
Als würde die Uhr sich selbst wehren
Marclay baut auch den einen oder anderen Witz ein. So scheint er unzählige Filme ausgewählt zu haben, in deren Titel das Wort „Time“ vorkommt. Die Science-Fiction-Diskurse über Zeitreisen klingen in diesem Kontext nochmal ganz anders. Außerdem ist „The Clock“ auch eine Arbeit über die Uhr als Objekt. Nie hat man so viele extravagante, zerbrochene, glänzende, leuchtende, sich transformierende Uhren gesehen wie in „The Clock“. Selbstredend bekommen auch die Uhren-Gadgets von James Bond ihre Auftritte, etwa wenn sich Roger Moores Armbanduhr in eine Säge verwandelt. Man schaut anders auf solche Szenen, wirken sie so, als würde sich die Uhr gegen die Zeit wehren.
Zwischendurch vertrete ich mir die Beine. Vor dem Museum findet eine Großdemonstration der IG Metall statt. Es ist erstaunlich, wie schnell sich die Wirklichkeit entfernt. Da hilft auch die synchronisierte Zeit nicht. Ich schaue auf die Demonstrierenden und frage mich, was die Zeit für sie bedeutet. Die Zeit, das sind Arbeitsstunden. Die Zeit, das ist die prekäre Lebenszeit, das ist die Zeit, in der man nicht an die Zeit denken muss. „The Clock“ geht immer weiter, dreht sich im Kreis. Es gibt keinen Beginn und kein Ende. Es gibt nur die Öffnungszeiten des Museums. Wenn eine Vorführung um 17 Uhr beginnt, darf man um 17 Uhr ins Kino. Es entsteht der Eindruck, dass das Werk auch dann läuft, wenn niemand da ist, wenn die Tore zum Museum verschlossen sind.
Ich sehe, wie ein Kind im Kinderwagen mit leuchtenden Augen
eine Seifenblase in der Luft verfolgt und denke, dass die Wahrnehmung von
Wahrheit und Schönheit mit einem jähen Aufblitzen zusammenhängt. Es braucht
Momente, die die Zeit aushebeln. Es braucht Uhren, die stillstehen, um zu
überleben. Die fortlaufende Zeit in „The
Clock“ verspricht diese Momente, aber sie kommen nie. Was geschieht,
wird sofort abgelöst. Alles wird Erwartung, die Zeit übersetzt das Leben in
Erwartung. Es gibt keine Vergangenheit und nur einen Hauch Gegenwart. Es gibt
nur Zukunft, und das ist schrecklich. Solche Gedanken habe ich, und dann gehe
ich wieder ins Kino.
Was kommt nach 13.03 Uhr?
Denzel Washington sagt, dass er nur noch ein paar Minuten habe. Tom Cruise rennt, gleich geht die Bombe hoch. Robin Williams schaut auf die Uhr und schwitzt. Ich bleibe noch ein bisschen, noch ein bisschen länger, nur noch ein bisschen, noch eine Minute und noch eine. Was kommt wohl nach 13.03 Uhr? Ja, 13.04 Uhr, und dann? Irgendwann löse ich mich. Ich verlasse das Kino am frühen Nachmittag. Keine Ahnung, was das letzte Bild ist, das ich sehe. Ich sehe nichts mehr außer tickenden Zeigern. Ich weiß jetzt, dass selbst vierundzwanzig Stunden keinen Tag ergeben. Dazu bräuchte es mehr. Ich würde meine Uhr wegschmeißen, wenn ich eine besäße. Was gäbe ich jetzt für einen Augenblick ohne Minute!
Hinweis
„The Clock“ ist im Kunstmuseum Stuttgart noch bis 25. Mai zu sehen. Die Arbeit in ihrer vollen Laufzeit von 24 Stunden ist vom 17. Mai, 10 Uhr, bis zum 18. Mai, 18 Uhr, zu erleben. Zudem gibt es zwei Termine mit Sonderöffnungen des Museums am 25. April, ab 21 Uhr (bis 26. April, 1 Uhr) und 6. Mai, 7-10 Uhr. Der Eintritt ist frei. Weitere Informationen finden sich hier.