Musicals entführen in Traumwelten aus Gesang und Tanz, sind aber nicht nur eskapistisches Showbiz, sondern greifen substanzielle Themen auf. Vor allem in der letzten Dekade geht es dabei immer wieder um das Spannungsfeld von Individuum und Gesellschaft. Ein Blick auf die Gegenwart des traditionsreichen Genres anlässlich des Filmstarts von „Emilia Pérez“.
Ein Truck, der im mexikanischen Hinterland über unebene Wege holpert, wird zum Taktgeber. Ein Kartellboss beginnt, auf den dumpfen Beat mit rauer, heiserer Stimme die Bedingungen eines ungewöhnlichen Auftrags zu unterbreiten. Sein goldener Zahnschmuck blitzt mit jedem Wort im künstlichen Licht. Seiner Stimme Gehör zu schenken bedeutet, den Deal einzugehen. In einem beinah tonlosen Atemzug vertraut er an: „Ich will eine Frau sein.“
Wenn man Jacques Audiards „Emilia Pérez“ in einem Wort beschreiben will, so wäre kühn ein treffender Ausdruck. Es ist ein Film, der allen Schubladen trotzt: ein Musical allemal, teils Melodram, teils Thriller über Transgeschlechtlichkeit, Liebe und strukturelle Gewalt. Die Geschlechtsumwandlung ist dabei erst der Auftakt einer Geschichte, die danach fragt, wie sehr sich Menschen tatsächlich verändern können.
Die eigene Lebensgeschichte ist mit der Landesgeschichte verwoben; man selbst zu sein heißt auch, in gesellschaftliche Strukturen eingebunden zu sein, die einen prägen und die man seinerseits mitprägt. Mitunter scheitern die Selbstverwirklichungsfantasien an der sozialen Verortung. Ein „Außerhalb“ des Systems gibt es nicht. Darum kreist „Emilia Pérez“. Die Figuren sind darin wie Fliegen in einem Spinnennetz gefangen. Von den klebrigen Fäden aus blicken sie in die moralischen Abgründe hinab, in die sie letztlich hineinstürzen.
So führt das Musical zum Thema des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft. Soli und Chor schreiben die Spannung von Individualität und Gemeinschaft in die Ästhetik des Musicals ein. Sein Grundmoment ist das Heraustreten seiner Figuren aus dem unmittelbaren Geschehen, um mittels Musik, Gesang und/oder Tanz ihr Innerstes auszudrücken. In großen Ensemblemomenten gehen sie in der Gesellschaft auf. Ob bunte Wachträume oder realhistorische Konflikte – Musicals inszenieren immer wieder dieses Spannungsverhältnis.
Hoch leben die Träume
Los Angeles ist eine Stadt mythischen Gehalts. In der brütenden Hitze kann selbst das Hupkonzert auf den sich scheinbar immer stauenden Freeways musischer Klang sein. Blendende Lichter können zum Ausdruck von Seelenzuständen werden; der pinke Himmel zur Weltflucht in Reinform. Diese Magie hat Damien Chazelle in „La La Land“ unübertroffen eingefangen und damit sofort einen Platz im Musical-Pantheon eingenommen.
Die Romanze um Mia (Emma Stone) und Sebastian (Ryan Gosling), ihre Suche nach dem Platz in der Kunstszene gestaltet den Widerstreit von Selbstentfaltung und Verpartnerung, die auf unterschiedlichen Ästen eines sich gabelnden Weges liegen. Hoffnung und Melancholie, Zukunft und Nostalgie, Zweisamkeit und Einsamkeit vereinen sich in L.A. – denn nachts träumt man immer nur allein.
Verloren in der Stadt der Möglichkeiten, in der ein jeder nach den Sternen strebt, kann es schwer sein, aus der Masse herauszutreten und mehr als „someone in the crowd“ zu werden. Leben bedeutet, das Drehbuch des eigenen Einpersonenstücks zu schreiben. Es wie im Jazz fortlaufend und immer wieder neu zu arrangieren und zu komponieren.
Dabei vergesellschaftet sich „La La Land“ mit der Tradition des Hollywood-Musicalfilms. Visuelle und choreografische Zitate aus Klassikern wie „Du sollst mein Glücksstern sein“ oder „Ein Amerikaner in Paris“ werden zu einer eigenen Bildsymphonie angeordnet, welche die Filmgeschichte lebendig hält – und fortführt. Mia und Sebastian fließen aus dem Leben heraus in Songs, lösen sich aus ihren Grenzen in Träume aus Technicolor, in denen sie mit der Kunst verschwimmen. Bis das Happy End selbst nur noch Traumbild ist, ein letzter Akt vor gemalten Filmkulissen.
Zuhause außerhalb der Norm
Fingerschnipsen und Pfeifen. Manchmal sind die simpelsten Mittel am eindrücklichsten, wie in der zeitlosen und von Steven Spielberg im Jahr 2021 wieder aufgelebten „West Side Story“. Das ikonische Leitmotiv der „Jets“ markiert ihr Revier, die Straßen eines Viertels in Trümmern. Doch die Motorengeräusche der dröhnenden Maschinen, welche Mietshäuser für das entstehende Lincoln Center niederreißen, schmettern lauter als sie. Sie sind Jugendliche, die nur noch in einer Gruppenidentität Halt finden, die auf der vereinfachenden Ideologie eines fremdenverachtenden Feindbildes beruht: die puerto-ricanischen „Sharks“ als Prügelknaben.
Die „Jets“ sind Kinder ihrer Umstände,
oder wie sie in „Gee, Officer Krupke“ beteuern: „soziologisch krank“. Verborgen
hinter der Komik unterziehen sie sich in der temporeichen Nummer einer
Selbstanalyse und kommen zu dem entrüstenden Ergebnis: Sie wurden großgezogen von
einem korrupten System, das sie abgestempelt hat, in ihnen jegliche Hoffnung geraubt
und den „amerikanischen Traum“ desillusioniert hat.
Was sie aber nicht davon abhält, die puerto-ricanische Bevölkerung zum Feindbild zu machen, obwohl die Immigrant:innen ebenfalls Opfer derselben gewaltförmigen Gesellschaftsstruktur sind. Vor der Abrissbirne sind beide Gruppen gleich.
Die Ordnung der Straße wird auf dem Tanzparkett ausgehandelt, der „Mambo“ zum Schlagabtausch zwischen den verfeindeten Gangs. Im wirbelnden Treiben von fliegenden Röcken werden María (Rachel Zegler) und Tony (Ansel Elgort) zu Fixpunkten. Der brodelnde Konflikt verschwimmt zum bunten Farbrausch. Ihre augenblickliche Liebe überschreitet die in den Köpfen gesetzten Grenzen. Ein heimlicher Kuss hinter der Tribüne wird zum Zündstoff, ein Vorwand für die Bandenchefs, den alles entscheidenden Showdown zwischen „Jets“ und „Sharks“ heraufzubeschwören, welcher schließlich tragisch-shakespearisch endet.
Multikulturelle Einflüsse
Das New York in „West Side Story“ zeugt von einem theatralen Expressionismus, der den komplexen Gefühlswelten der Figuren poetischen Ausdruck verleiht. Wenn Tony an den Rückseiten der Häuserzeilen nach seiner Geliebten sucht und sich die Fenster im kräuselnden Wasser einer Pfütze spiegeln, erstrahlt María im sanften Lichtkreis eines Scheinwerferlichts auf der Feuerleiter. Der Stadtraum wird zum Bühnenraum.
Spielbergs Film hebt sich von der „West Side Story“-Adaption aus dem Jahre 1961 vor allem durch eine authentifizierende Darstellung ab. So sind die „Sharks“ mit tatsächlichen hispanoamerikanischen Schauspieler:innen besetzt. Passagen von „America“ wurden umgearbeitet, damit statt einer stereotypisierenden Darstellung ein authentisches Bild Puerto Ricos entsteht.
Es ist ein Bekenntnis zu den reichen multikulturellen Einflüssen in den USA, das in aller Deutlichkeit auch bei Lin-Manuel Miranda zu finden ist. In der aktuellen Musical-Landschaft gibt der Komponist, Autor und Schauspieler den Ton mit an. In dem mit hohem Lob bedachten Film „Hamilton“ vereint er R&B, Hip-Hop, Soul und Broadway-Songtraditionen, um die US-amerikanische Geschichte neu zu erzählen. Historisch weiße Figuren, beispielsweise die Gründerväter, werden mit People of Color besetzt, um so den übertönten Stimmen Gehör zu verschaffen und marginalisierte Gesellschaftsgruppen mit ins US-amerikanische Narrativ zu holen.
Bei allen Versuchen eines historischen Revisionismus wird hier aber noch immer die Geschichte eines weißen Amerikas wiedererzählt. Eine genuine Auseinandersetzung mit den Erfahrungen der lateinamerikanischen Bevölkerung in New York als Zelebrierung der dominikanischen Kultur und Gemeinschaft zeigt Miranda bereits in einem früheren Musical, dem ebenfalls verfilmten „In the Heights“.
Gesungene Psychogramme
Eine kleine, mit Orientteppichen
ausgelegte Bühne kann ein Fenster in die Seele eines Menschen sein. Ein Ticket
für die Aufführung sollte 25 Dollar an der Abendkasse kosten; der Preis wurde
auf 10 Dollar reduziert. Vor dem inneren Auge des Hauptakteurs ziehen Momente
seines Lebens vorbei und werden im Film lebendig: die Prüfungen und Drangsale
des Künstlerdaseins, der 30. Geburtstag, die Angst, den kreativen Zenit
überschritten zu haben – ein Gefühl ablaufender Zeit, ein „tick, tick…BOOM!“
Es ist der gleichnamige Rock-Monolog von und über Jonathan Larson, der später das erfolgreich Musical „RENT“ schrieb, es aufgrund seines frühzeitigen Todes in der Nacht vor der ersten Off-Broadway-Aufführung aber selbst nie miterlebte, den Lin-Manuel Miranda in diesem Film adaptiert hat. Er spielt rund um Larsons 30. Geburtstag und die Entstehung seines Erstlingswerks „Superbia“: Eine Synthiepop-Musical-Dystopie über eine Zukunftswelt, in der das Leben auf eine endlose Reality-TV-Sendung hin ausgerichtet ist und die 18-stündige Übertragung der 31. alljährlichen „Face Awards“ herbeigefiebert wird. „Superbia“ wurde nie produziert; zu verworren die Handlung, zu unkonventionell und nicht-kommerziell das ganze Stück.
In „tick, tick… BOOM!“ wird das unprätentiöse Leben dieses Künstlers auf die Bühne (und in der Verfilmung auf die Leinwand) gebracht. Gezeigt werden die schlaflosen Nächte, die Schichten im Diner, die nicht beglichenen Stromrechnungen, aber auch die großen Visionen. Es ist kein Märchen vom Overnight Success, sondern eine Liebeserklärung an harte, kompromisslose Arbeit. Eine Partitur von Schweiß und Tränen, in der sich Kunst und Leben gegenseitig bedingen.
Ein Schwimmbecken wird zum Notenblatt, ein Wortgefecht zum Song. Songtexte werden zu Tagebucheinträgen aus Larsons Leben, die immer auch doppelt als Kommentar auf die Gesellschaft lesbar sind. Die Antworten auf das Leben finden sich nur in der künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Leben.
Und da dies unaufhaltsam voranschreitet, droht immer auch neues Unheil. Während Larson das Privileg der Abschottung genießen kann, erlaubt die gesellschaftliche Ordnung dasselbe nicht für seine Freund:innen, die Kompromisse eingehen und künstlerische Ambitionen aufgeben müssen. Über New York schwebt das Zeichen der Aids-Epidemie. Ein Flüstern in der Luft, das immer dann zum Schrei anschwillt, wenn Larsons Freunde der Krankheit anheimfallen. In „RENT“ wird er ihnen eine Stimme geben.
Doppelte Schneide
Seit jeher interessieren sich Menschen für Skandale. Empörung bietet scheinbar den besten Gesprächsstoff. Die tollsten Shows werden auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten abgezogen. Wie kaum ein anderer verstand es P. T. Barnum, daraus Geld zu schlagen. Seine Kuriositätenkabinette und ein von ihm mitbegründeter Wanderzirkus brachten ihm im 19. Jahrhundert die Namen „Prinz des Humbugs“ und „The Greatest Showman“ ein.
Ein Drang zu Drastik und Übertreibung, der darin deutlich wird, lässt sich auch für den Film gleichen Titels „The Greatest Showman“ geltend machen: Ein Musical in überbordenden Knallfarben und voller zirzensischer Spektakel. Barnum (Hugh Jackman) ist – wie viele andere Gestalten des Musicals – ein amerikanischer Träumer. Lichtspiele werden zum Zauber, Fantasie transzendiert die Wirklichkeit – was ja genauso für das Dispositiv Film gilt.
Vermeintlich verspricht „The Greatest Showman“, die Außenseiter der Gesellschaft ins Zentrum zu rücken. Den Menschen, die Barnums Shows zu Weltruhm verhalfen, den Freaks und Sonderlingen die Manege zur Verwirklichung freizumachen. Im Feuer der Zirkusbegeisterung Akzeptanz zu schmieden.
Sichtbarkeit überformt den ganzen Film, sowohl thematisch als auch filmästhetisch. Szenen in der Oper verdichten Sichtachsen: Barnums Blicke verfallen der Sängerin, der „echten“ Kunst, während seine Showtruppe auf die hintersten Stehplätze geschickt wird, wo sie vor den Augen der feinen Gesellschaft verborgen sind und keinen Anstoß erregen.
Das gilt auch für den Film, denn im ersten Akt wird Individualität weitgehend typisiert und zum Dekor zurückgedrängt. Noch im zweiten Akt – von der Selbstermächtigungs-Hymne „This Is Me“ einmal abgesehen – müssen die Freaks hinter der doch wenig kuriosen Liebesbeziehung zwischen Phillip (Zac Efron), dem Schönling in White Tie, und der Akrobatin Anne (Zendaya) sowie Barnums privaten wie geschäftlichen Verwicklungen zurückstecken.
Einzigartigkeit und Individualismus werden bejaht, wo diese profitabel sind – doch das Ungewöhnliche darf nicht zum Gewöhnlichen naturalisiert werden, um dieses Geschäft mit der exotistischen Faszination am Laufen zu halten. Hier geht es nicht um einen fantasiereichen „Wonka“, der konfektionierte Süßwaren feilbietet, sondern um diskursive Machtprozesse, die Menschen zum Anderen machen.
„The Greatest Showman“ balanciert auf einem dünnen Seil, da der Film einer umstrittenen Persönlichkeit ein Denkmal setzt. Der historische Barnum war viel weniger Philanthrop als Unmensch. Ein skrupelloser Geschäftsmann und Trickbetrüger, der Fabelwesen aus Tierleichen zusammenmontierte und (unter anderem versklavte und behinderte) Menschen als Freaks ausstellte – teils noch nach deren Tod. Im Grunde bedient auch der Film damit den Mythos des US-amerikanischen Exzeptionalismus. Die Geschichte wird bereinigt, als große Shownummer verpackt und durch eine begradigte Linie mit dem Empowerment heute verbunden.
Ein polarisierendes Genre
Nun ist der Musicalfilm ein
polarisierendes Genre. Im Bruch mit eingespielten Erzählverfahren ist es zumal
befremdlich, wenn komplexe Gesellschaftsfragen vertanzt und in Gesang vertont
werden. Filme der Gegenwart versuchen, diese Doppelläufigkeit von
realistischem Porträt und stilisierter Künstlichkeit zu glätten, indem die
Musikeinlagen an figürliche Subjektivität, Träume und andere psychische
Zustände – wie kürzlich in „Joker: Folie à Deux“ – zurückgebunden
werden oder explizite Aufführungssituationen inszeniert werden.
Trotzdem will das Musical kein Abbild der Realität sein, sondern diese ästhetisch überhöhen. Es geht dabei nicht darum, klare Antworten zu finden, sondern um ein Erlebnis, das das Fragen überhaupt erst provoziert und so Resonanzräume eröffnet. Musik und Tanz als poetische Ausdrucksformen, wenn sich innere Ekstase nach außen kehrt. Stimmen, die weiterklingen, wenn der Vorhang sich zuzieht.