Handys und soziale Medien spielen im Leben von Kindern und Jugendlichen eine enorme Rolle. Das spiegelte sich auch in den Filmen für diese Altersgruppe, die in der „Young Audience“-Reihe bei den 66. Nordischen Filmtagen zu sehen waren. Auf recht unterschiedliche, so informative wie lustige oder auch erschreckende Weise reflektieren Filme aus den nordischen Ländern, welchen Herausforderungen und Gefahren sich Heranwachsende in der Gegenwart gegenübersehen.
Die elfjährige Amanda soll einen neuen Mitschüler betreuen. Ihr Lehrer möchte, dass sie sich im nächsten Schuljahr um Lars kümmert. Doch Amanda zögert und will zunächst nicht, weil Lars das Downsyndrom hat. Im Lauf der Zeit freundet sie sich dann mit dem impulsiven Jungen an, der bei seinem Vater wohnt. Allerdings hält sie diese Freundschaft geheim, da sie fürchtet, dafür verspottet zu werden. Schließlich setzt ihre Klassenkameradin Anna sie so lange unter Druck, bis sie Details verrät, die ein gehässiger Blog bald in die Welt hinausposaunt. Als sich Lars tief verletzt von ihr abwendet, bereut Amanda ihre Handlung. Doch Lars nimmt ihre Entschuldigung nicht an.
„Lars is LOL“ von Eirik Sæter Stordahl,
der bei den 66. Nordischen Filmtagen Lübeck (6.-10.2024) den
Preis der Kinderjury gewann, fußt auf dem Jugendbuch „Lars, mein Freund“ von
Iben Akerlie. Mit viel Fingerspitzengefühl geht er ein breites Themenfeld an,
das von der Ausgrenzung von Menschen mit Behinderung über Mobbing, Verrat,
Solidarität und Freundschaft bis zur ersten Liebe reicht. Soziale Medien als zentrales
Kommunikationsmittel der jungen Generation spielten darin eine große Rolle. Der
Film zeigt ausgiebig, welch negative Folgen sie zeitigen können, ohne darüber ins
Predigen zu verfallen.
Die warmherzige Inszenierung wird von den ausgezeichneten Kinderdarstellern Lilly Winger Schmidt und Adrian Øverjordet Vestnes getragen, die als starke Identifikationsfiguren mit Ecken und Kanten fungieren.
Das Filmangebot der Sektion „Young Audience“ war in diesem Jahr so vielfältig wie thematisch weitgespannt. Die Beiträge erzählten von Abenteuern, Freundschaften, Familien, Handicaps und komischen Situationen. Auffällig war, dass die jungen Protagonist:innen oftmals schwierige Entscheidungen zu treffen hatten, sich auf andere Perspektiven einlassen oder den Aufbruch in unbekannte Regionen wagen mussten.
So steht eine neurodiverse Figur im Zentrum des Dokumentarfilms „Neurotypes“. Mit „neurodivers“ oder „neurodivergent“ werden Menschen bezeichnet, die sich mit Autismus, ADHS, Dyskalkulie, Legasthenie, Synästhesie, Tourette-Syndrom, bipolarer Störung oder Hochbegabung arrangieren müssen. Die Regisseurin Maija Hirvonen porträtiert in „Neurotypes“ die junge Aida und deren Mutter, die sich liebevoll um das autistisch-hochbegabte Mädchen kümmert, das faszinierende Steine erforscht. Allerdings führt die Reizüberflutung in der Schule bei Aida zu Stress, und die vielen sozialen Interaktionen lösen außerdem häufig Ängste bei ihr aus. Ein Vorbild findet Aida schließlich in der schwedischen Teenagerin Greta Thunberg, der Gründerin der „Fridays for Future“-Bewegung. Aida avanciert selbst zur Aktivistin und engagiert sich für die Anliegen von neurodivergenten Menschen.
Mehrfach demonstriert Aida zusammen mit ihrer Mutter und anderen Mitstreiterinnen vor dem Parlament in Helsinki. In ihrem Blog veröffentlicht sie einen Acht-Punkte-Katalog, der unter anderem kleinere Klassen und ein toleranteres Schulsystem einfordert. Mit beachtlicher Empathie beobachtet der Film den alltäglichen Einsatz von Tochter und Mutter für eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen, wobei sie viel Unterstützung aus der Community erfahren. Kritisch könnte man gegen „Neurotypes“ allerdings einwenden, dass die filmische Darstellung etwas einseitig ist, da ja auch andere unterprivilegierte Gruppen Anspruch auf gleiche Chancen und gleiche Rechte haben.
Um geradezu therapeutische Perspektivwechsel geht es auch in dem Dokumentarfilm „Fighting Demons with Dragons“. Die dänische Regisseurin Camilla Magidze zeichnet darin zwei Jahre lang das Leben in einem Internat nach, das pädagogisch ganz auf Rollenspiele setzt. Damit reagiert das Bildungsinstitut auf den Umstand, dass jeder fünfte dänische Teenager unglücklich ist; viele glauben, nicht dazuzugehören.
Die inneren Dämonen bekämpfen
Im Zentrum stehen die Jugendlichen Ask, Jose und Luca,
die mit schweren Belastungen leben müssen. Der Transmensch Ask hat sich früher
selbst verletzt; Jose lebt seit neun Jahren mit der Diagnose Asperger-Syndrom, Luca
wurde in ihrer Familie Opfer von sexuellem Missbrauch. Der einfühlsame Film folgt
dem Trio abwechselnd im Unterricht, im Alltag oder beim Feiern und zeigt, wie
die Außenseiter in den Rollenspielen ihre Dämonen bekämpfen. Denn verkleidet
und maskiert können sie sich in fremden Figuren ausprobieren, ihre Grenzen
testen und erleben, wie es ist, wenn man zu einer Gemeinschaft gehört. Der
dialoglastige Film, der in langen Sequenzen die Flucht der Jugendlichen in die
Fantasieräume erkundet, gewann bei den Nordischen Filmtagen den Preis der
Jugendjury.
Um eine von außen angestoßene Identitätskrise geht es in dem Jugenddrama „My Fathers’ Daughter“ von Egil Pedersen. Der Film erzählt von der 15-jährigen Elvira, die mit ihrer lesbischen Mutter Beate in einer abgelegenen Region Norwegens lebt und sich mit ihrer Identität als Angehörige der Sami-Minderheit herumschlägt. Bis zum ersten Mal ihr biologischer Vater Terje vor ihr steht. Elvira hatte bislang geglaubt, dass sie in einer dänischen Fruchtbarkeitsklinik gezeugt wurde. In ihren Tagträumen begegnet sie dem dänischen Schauspieler Nikolaj Coster-Waldau, den sie sich als Vater vorstellt. Der Kontrast zwischen den beiden „Vätern“ könnte kaum größer sein. Denn Terje, der so offensiv um ihr Vertrauen wirbt, ist gerade aus dem Gefängnis entlassen worden.
Pedersen entwickelt Elviras Identitätskonflikt mit
bemerkenswertem Einfallsreichtum. Denn als „Halbdänin“ hatte Elvira damit
geliebäugelt, ihren öden Heimatort irgendwann verlassen zu können; als „ganze“
Sami aber sieht sie die Aussicht auf ein erfolgreiches Leben schwinden. Zu groß
sind nach ihrer Ansicht die Vorbehalte der Bevölkerung gegen die als hinterwäldlerisch
geschmähten Sami. Die Hauptdarstellerin Sarah Olaussen Eira überzeugt in dem
ruhigen Drama als verunsicherte Protagonistin, die inmitten der ständigen
Herausforderungen nach einem Lebensentwurf sucht, der zu ihr passt.
Das Handy & die Stiefmutter
Neben solchen dramatischen Geschichten fanden sich in
der „Young Audience“-Reihe ein Gruselfilm und zwei Komödien. In dem
Mystery-Thriller „Raspberry Hill“
erzählt Saara Cantell von den Erlebnissen einer Elfjährigen,
die 1927 als Tuberkulose-Kranke in ein Nobelsanatorium eingewiesen wird, in dem
ein verbrecherischer Arzt minderjährige Patienten als Organlieferanten für
zahlungskräftige Kunden missbraucht. Ein etwas altbackener Kostümfilm mit
klischeehaften Figuren und sentimentalen Rückblenden. Der lettische Kinderfilm
„Boom!“ von Marta Selecka und Andra Doršs
über zwei Jungen, deren Freundschaft durch Zauberkräfte und eine neue
Mitschülerin auf die Probe gestellt wird, entpuppte sich hingegen als
temporeiche Fantasykomödie, die allerdings auf stereotype Figuren und hektische
Gags setzt, um möglichst viele Lacher zu generieren.
Weit origineller ist die schwarze Komödie „Victoria Must Go“ von Gunnbjörg Gunnarsdóttir. Die Geschwister Hedvig und Henrik sollen im schicken Landhaus ihrer Familie die Hochzeit ihres Vaters Nikolai mit der attraktiven Stiefmutter Victoria nachfeiern. Doch Victoria bringt mit ihrer Willkür und ihren lästigen Vorschriften die beiden Kinder schnell auf die Palme, zumal sie den konfliktscheuen Vater immer auf ihre Seite zieht. Bis der Nachwuchs auf die groteske Idee verfällt, einen Auftragskiller anzuheuern, der die Stiefmutter beseitigen soll. In dem bosnischen Arbeitslosen Carl finden sie für diesen Auftrag auch bald einen geeigneten Kandidaten.
Die knallig-makabre Komödie spielt mit überzogenen
Figuren, wobei sie auch vor ruppigen Gags nicht zurückschreckt. Diese Strategie
zahlte sich aus, da sich das junge wie auch das ältere Publikum köstlich amüsierte.
Auch in „Victoria Must Go“ spielen soziale Medien eine dramaturgische
Schlüsselrolle. Denn erst das Smartphone-Verbot, das die Kinder als Entrechtung
einstufen, gibt den Anstoß zu dem schrillen Mordplan. Eine Rolle spielt dabei
auch, dass ausgerechnet Victoria ihr Einkommen via Instagram verdient. Der
Schluss des Films, der auf ein konventionelles Happy End verzichtet, wirft komplexe
Fragen nach Ethik und Gerechtigkeit auf und wurde in Lübeck recht kontrovers
diskutiert.
In einer schwimmenden Nussschale
Auf sehenswerte Filme mit Heranwachsenden oder für
Heranwachsende stieß man bei den Nordischen Filmtagen auch in den anderen Filmreihen.
Dazu zählt etwa der Eröffnungsfilm „Flow“
von Gints Zilbalodis, ein packender Animationsfilm, der mit imposanten
Bildkompositionen von einer Art Sintflut handelt, die über eine menschenleere
Erde hineinbricht. Eine kleine schwarze Katze rettet sich in ein Segelboot, in
dem auch ein Wasserschwein, ein majestätischer Sekretärvogel, ein Hund und ein
Lemurenaffe Zuflucht finden. Gemeinsam treiben sie über die Wassermassen und verständigen
sich mit Lauten und Gesten. Unterwegs treffen sie andere gestrandete Tiere,
müssen Abenteuer überstehen und werden schließlich Freunde.
Der lettische Regisseur Zilbalodis erweckt mit großer Präzision die Tiere zum Leben. Er erfasst ihre charakteristischen Bewegungen, ohne sie zu vermenschlichen oder dialogisch auszubuchstabieren. Die Kamera folgt dabei zunächst vor allem der Katze. Die Oberflächen der Tiere sind seltsam rau animiert, während das Boot und die Natur differenzierter gestaltet sind. Die apokalyptische Atmosphäre der filmischen Odyssee wird von einer bombastischen Musik unterstrichen. Dramaturgisch mangelt es dem Film vor allem im Mittelteil etwas an Ideen; die Katze muss allzu oft ins Wasser springen oder fällt von Bord. Doch das Setting der Notgemeinschaft in ihrer schwimmenden Nussschale schlägt gekonnt den Bogen zu aktuellen Diskussionen über Migration, Naturschutz, Erderwärmung und Naturkatastrophen.
Die größte Entdeckung der Nordischen Filmtage aber war der dänische Spielfilm „Mein ewiger Sommer“ von Sylvia Le Fanu. Ein echtes Meisterwerk, das allein schon den Besuch des Festivals gelohnt hätte. „Ein Film so hell wie ein nicht enden wollender Mittsommer“, erklärte die Jury des NDR-Filmpreises in ihrer Begründung. Die lichtdurchfluteten Bilder des Familiendramas wirken auch dann heiter, wenn sich das als trügerische Helligkeit entpuppt. Während der großen Ferien fährt die 15-jährige Fanny mit ihren Eltern in ein Sommerhaus an die Küste. Dort will das Trio lesen, spazierengehen und schwimmen. Doch ein Krankenbett, das zwei Sanitäter im Erdgeschoss für die Mutter Karin aufstellen, deutet schon früh etwas anderes an. Die Mutter ist todkrank. Doch der Vater hat Freunde zum Essen eingeladen; es soll ein Picknick hoch über dem Meer werden.
Fanny ist hin- und hergerissen: Einerseits will sie
die kostbare Zeit mit der Mutter verbringen, andererseits aber auch den Sommer
genießen. Das Mädchen bekommt Besuch von seinem Freund und seiner
Mädchenclique, geht in einen Club, jobbt in einer Gaststätte. Doch der Tod ist
unerbittlich.
Kaya Toft Loholt spielt Fanny mit einer bewundernswerten Intensität als junge Frau im Spannungsfeld zwischen Trauer und Trost, Lebenshunger und Aufbegehren. Auch Maria Rossing und Anders Mossling laufen als ihre Eltern unter der souveränen Regie zur Hochform auf. In der erstaunlich stilsicheren Inszenierung beleuchtet Le Fanu nach autobiografischen Erfahrungen die Spannungen und nervlichen Belastungen, die eine tödliche Erkrankung für das Familienleben und alle Beteiligten mit sich bringt. Die ruhigen Bildkompositionen vergegenwärtigen die hochemotionalen Konflikte ebenso differenziert wie einfühlsam, ohne ins Rührselige abzudriften. Das gilt auch für das erlösende Finale, das bei aller Melancholie ein Zeichen des Aufbruchs setzt.