Vom 28. Oktober bis zum 3. November lief in Leipzig die 67. Ausgabe von „DOK Leipzig“, einem internationalen Festival für Dokumentar- und Animationsfilme. Zu den Highlights im Programm gehörte der essayistische Film „La Jetée, the Fifth Shot“, der für seine vielschichtige Auseinandersetzung mit Chris Markers Klassiker „La Jetée“ mit einer „Goldenen Taube“ geehrt wurde.
Da ist dieses eine Bild, ein Standbild aus einer Reihe von Standbildern, die in Dominique Cabreras „La Jetée, the Fifth Shot“ zu sehen sind. Gemacht hat sie die Stills nicht, das haben Chris Marker und Jean Chiabaut 1962 in „La Jetée“ erledigt. Selbst an ihrer Reihenfolge mitsamt den langsamen Überblendungen, die Verbindung zwischen den Einzelbildern schaffen, wurde durch Cabrera nichts verändert. Die elf Fotografien zeigen eine schlafende Frau. Sie rührt sich, vielleicht von einem Traum angefasst, dreht sich zur Seite, um schließlich die Augen zu öffnen und in die Kamera zu schauen. Was vorher noch ein Foto war, wird zum bewegten Bild: Sie zwinkert.
Über den Eindruck, dass sich hier etwas in Gang setzt, was vorher noch eine Erinnerung gewesen sein könnte, über die Illusion von Bewegung durch die Montage, über das Versprechen auf Veränderung, die nicht einsetzt – und dann doch, mit nur einem kleinen Zwinkern –, über die Abfolge der elf Bilder sind schon viele filmwissenschaftliche Texte geschrieben worden. Sie wird als bekannt vorausgesetzt, auch ich habe sie schon mal gesehen. Aber was ich erst bemerke, weil Cabrera es im wiederholten Abspielen bemerkt, ist diese eine Aufnahme, in der die Frau für einen Moment ihren Mund öffnet. Auf dem Bild sieht es fast so aus, als wolle sie etwas sagen. Ihre Augen bleiben dabei aber noch geschlossen – weil der Traum, in dem sie steckt, so schön ist, dass sie ihn nicht verlassen will? Oder weil er so sehr an ihr klebt, dass sie ihn nicht so leicht loswerden kann?
Das könnte Sie auch interessieren:
- Preis der interreligiösen Jury bei DOK Leipzig 2024
- Fremdkörper in der Landschaft. Das 65. DOK Leipzig
Was wollte jener Körper schon immer mal sagen?
Zu wem sie sprechen würde, wenn sie es denn täte, ist nicht eindeutig. Niemand liegt neben ihr. Und doch gibt es ja die Person mit der Kamera, Chris Marker nämlich, der sich für Hélène Châtelain als Schläferin interessiert. Eine Schauspielerin ist die 2020 tödlich an Covid erkrankte Châtelain, auf 35-Millimeter-Film fixiert und unsterblich gemacht. Sagen wird sie nichts, der Mund geht wieder zu mit dem nächsten Bild, ehe die Augen die Arbeit aufnehmen. Ob sie im Bett als „Die Frau“, wie ihre Rolle heißt, tatsächlich die Schauspielerin war, für die sie vom Publikum gehalten wurde, ob das Schlafen vorgetäuscht war, wird bei Cabrera plötzlich unklar. Die französische Filmemacherin unternimmt ein Gedankenspiel: Könnte es nicht sein, dass wir es hier mit zwei Liebenden zu tun haben? Wem gilt der Blick, den die Frau in die Richtung der Kamera wirft? Was bedeutet es, wenn der Körper zurückschaut, den ein „Male Gaze“ zuvor zugerichtet hat? Was wollte jener Körper schon immer mal sagen, aber hat es nie gewagt? Wer hätte ihm überhaupt zugehört?
„La Jetée, the Fifth Shot“ (2024) ist Teil einer Hommage-Reihe, die das Internationale Festival für Dokumentar- und Animationsfilm DOK Leipzig 2024 der 1957 geborenen französischen Filmemacherin Dominique Cabrera widmete. In der Sektion „Internationaler Wettbewerb Dokumentarfilm“ wurde das Werk als bester Langfilm mit einem der Hauptpreise des Festivals, der „Goldenen Taube“, geehrt.
Eine weitere Hommage wurde
für Isabel Herguera ausgerichtet, die zwischen Bildender Kunst
und Animationsfilm experimentiert. Mit dem Programm „Nicht aufgehen“ wurde Thomas Heise gewürdigt. Der Regisseur und Autor starb in diesem Jahr. Neben
den neuen Filmen
von Aysun Bademsoy („Spielerinnen“, 2024) und Sabine Herpich („Barbara Morgenstern und die Liebe zur Sache“, 2024) war auf dem Festival auch
der Kurzfilm „Accidental Animals“ zu sehen. Anhand von
Schnappschüssen auf Google Maps denken Leila Fatima Keita und Felix Klee darin über
die Situationen nach, wo der „Bug“ im System auf einmal zum tatsächlichen Käfer
wird, der auf der Linse einer Kamera landet, mit der wir die Umwelt vermessen.
„Goldenen Taube“ für „Tarantism Revisited“
Dass
ein solches Aufeinandertreffen von Mensch, Tier und Technik durchaus Gefahren birgt,
spinnt „Tarantism Revisited“ von Anja Dreschke und Michaela
Schäuble fort. In ihrem Essayfilm, der mit der „Goldenen Taube“ für den besten
Langfilm im Deutschen Dokumentarfilm-Wettbewerb ausgezeichnet wurde, widmen sie
sich dem Tarantismus als Phänomen
zwischen gegendertem Krankheitsbild, exotisierendem Medienspektakel,
feministischer Körperpraktik, kulturellem Erbe und hübsch vermarktbarer
Tourismusattraktion. Mit dem Biss der Tarantel ist es nicht so leicht, wie es
zunächst noch schien; die Beziehung zweier Frauen rückt ins Zentrum dieses
Films. Eine Forscherin und eine Betroffene nähern sich an, sie schreiben sich
Briefe: Unter welchen Bedingungen macht sich wer ein Bild von wem?
Um zu „La Jetée, the Fifth Shot“ zurückzukehren: Das Standbild der schlafenden Frau mit dem geöffneten Mund ist gar nicht das, um das es bei Cabrera eigentlich geht. Ihr Dokumentarfilm widmet sich nämlich der fünften Einstellung aus Markers experimentellem Science-Fiction-Klassiker „La Jetée“. Denn ihr Cousin glaubt, sich ebenda zusammen mit den Eltern wiedererkannt zu haben, ganz zufällig Teil jenes 28-minütigen, schwarz-weißen Fotoromans geworden zu sein, als sie auf dem Pier des Flughafens von Paris-Orly nebeneinanderstanden.
Schon Voyeurinnen oder noch Komplizinnen
Wie eben dieser Ort mit der Unabhängigkeit Algeriens verbunden ist, mit Enttäuschungen, Hoffnungen und Neuanfängen, die das Leben der Filmemacherin und ihrer Familie bestimmten, bildet den Ausgangspunkt für eine eigene Zeitreise, die gleichwohl von nichts als detektivischer Cinephilie angetrieben wird. Cabrera verbindet das politische Geschehen sowie ihre Biografie mit der Welt von Marker, eine Umgebung, von der trotz seiner Bekanntheit erstaunlich wenig bekannt ist. Angefangen beim ungeklärten Geburtsdatum und einem viel zu langen Namen, den ihm die Eltern gaben, wird er als mysteriöse Gestalt vorgestellt, die seinen Filmfiguren mit ihrer Zerrissenheit und Komplexität durchaus nahesteht.
Wer war der Mann, der lieber unter diversen Pseudonymen operierte, statt sich mit dem eigenen Namen mitzuteilen? Wie schwer fühlt es sich an, über die Vergangenheit zu sprechen oder von der Zukunft zu träumen? Was kann ein Mund wollen, der sich öffnet und dann doch wieder schließt? Bei Cabrera gibt es die Sequenz nicht einmal, sondern mehrfach zu sehen. Sie kann nicht ablassen von ihr, lässt uns das Schauen auf das schlafende Gesicht so lange wiederholen, bis uns schwindelig wird, bis wir nicht mehr wissen können, ob wir schon Voyeurinnen oder noch Komplizinnen sind.
Einmal sieht sich Châtelain auf einem Fernseher, wirft den Blick auf ihren jüngeren Körper zurück. Sie weiß, dass sie das sein müsste im Bett, sie ist es ja auch, so viel steht fest, aber richtig glauben kann sie es trotzdem nicht. Von einer solchen Unzuverlässigkeit des Erinnerns erzählt „La Jetée, the Fifth Shot“, und von dem Gefühl, sich selbst nicht mehr zu erkennen, so genau wir auch hinschauen mögen; von dem Scheitern des Sprechens über die eigenen Gefühle, von der Angst, zurückgewiesen zu werden; und von der Sehnsucht, für einen Moment eine Frau zu sein, die so angesehen wird wie im Kino, ehe sich die Augen wieder zum Schlafen schließen.