Am 14. Oktober 2024 wurde Udo Kier, Schauspieler, Weltstar und queere Ikone, 80 Jahre alt. 1944 geboren in Köln-Mülheim als Udo Kierspe, zog es den Mann mit den hypnotischen blauen Augen früh über die Grenzen seiner Heimat hinaus und in die abseitigeren, morbiden Ecken des internationalen Kinos, wobei seine Erkundungen der dunklen Seiten des Menschseins oft auch eine Auseinandersetzung mit den dunklen Seiten des Deutschseins waren. Eine Hommage.
Man schaut ihn an und denkt: Was für ein Gesicht, wie schön, und auch, wie gefährlich. Ozeanfarbene Augen, die aufleuchten und sich verfinstern wie Meereswogen unter fliegenden Wolken. Die dunklen Haare, ein bisschen wie bei Delon. Dazu ein sinnlicher und brutaler Mund, der von Todesverachtung zeugt, der verführen möchte, aber – Vorsicht! – der womöglich auch Todesurteile aussprechen könnte. Ein Mörder im Film brüllt nicht herum, hat Udo Kier einmal in einem Interview erzählt, er sage stattdessen: „Ich werde mir jetzt meine Nägel machen, und wenn ich damit fertig bin, dann erschieße ich dich.“
Die Wiederkehr des Verdrängten
Udo Kier
spielt vor diesem Hintergrund eine janusköpfige Doppelrolle im
bundesrepublikanischen und internationalen Kino. Zum einen als Ausbrecher aus
der Enge und vermeintlichen Arglosigkeit der deutschen Nachkriegsgesellschaft,
hin zur Libertinage und zum Individualismus des Kinos der westlichen
Alliierten. Und andererseits als filmische Wiederkehr des Verdrängten, als
permanenter Denkzettel für die in Deutschland so gründlich beschwiegenen
Schergen und Helfershelfer des Nationalsozialismus, die sich in Kiers
Schreckgespenstern nun selbst erkennen sollten.
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Am 14. Oktober 1944 in den Trümmern des notwendigerweise zerbombten Nazideutschland geboren – gerade heute sollte man sich noch einmal an Thomas Mann erinnern, der über die Bombardements der alliierten Befreier schrieb: alles muss eben bezahlt werden – war für den jungen Kier schnell klar, dass sich das Leben anderswo abspielt, aber sicherlich nicht hier. Das Swinging London der frühen 1960er-Jahre und das nicht minder vibrierende Rom nehmen den jungen Kier dankend auf, machen ihn zum Gesicht von Boulevard, Jetset und Modezeitschriften. Er sieht anders aus, als man sich einen jungen Deutschen im Ausland vorstellt – feiner, sinnlicher, unberechenbarer. Eine österreichisch-französisch-deutsche Koproduktion mit dem vielsagenden Titel „Schamlos“ bietet ihm 1968 eine erste Hauptrolle. Es geht um Schutzgelderpressung, irgendwie, auch um Beatmusik und wilde Partys, Happenings und Orgien. Kier spielt einen jungen Gangster mit Lederjacke und Sonnenbrille, oder vielmehr, er spielt einen, der einen Gangster spielt: Alain Delon, natürlich, vielleicht auch dessen schlechte Kopie Andreas Baader.
Schwuler Protopunk
Ein
schamloser Film, obgleich er im Kern sehr eindeutig auf Fragen von Schuld und moralischer
Verantwortung (oder vielmehr mangelnder Verantwortung) verweist, ist der
berühmt-berüchtigte Schocker „Hexen bis aufs Blut gequält“
von 1970. Da gibt Kier einen so hübschen wie verdrucksten Adeligen, welcher der
frühneuzeitlichen Hexenverfolgung tatenlos zusieht – und schließlich selbst dem
blutdürstigen Mob in die Hände fällt.
Der homosexuelle Kier, der mit seinem kosmopolitischen Sexappeal alles verkörpert, was die Deutschen so inbrünstig hassen, legt mit seinem Nonkonformismus zugleich offen, wovor er flieht, wogegen er anspielt – den autoritären Charakter seiner Heimat. Diese Spannung macht ihn interessant für das New Yorker Umfeld von Andy Warhol. Dessen Protegé Paul Morrissey besetzt Kier Anfang der 1970er-Jahre für zwei grelle, bluttriefende „Frankenstein“- und „Dracula“-Verfilmungen. Kiers Spiel wechselt furios zwischen selbstbewusstem Camp, man könnte auch sagen, schwulem Protopunk, und der somnambulen Willfährigkeit, die man von den unglückseligen Filmfiguren aus dem deutschen Expressionismus der 1920er-Jahre kennt.
Dass Kier in größeren wie kleineren Rollen, mal als Kellner, mal als Komponist, mal als typisch deutscher Untertan, in Rainer Werner Fassbinders Spätwerk erscheint, ist nur folgerichtig. „Die dritte Generation“, „Lili Marleen“ und „Lola“ arbeiten sich an den wächsern-morbiden Bilderwelten der nationalsozialistischen Ufa und gleichermaßen am zeitgeistigen Autoritarismus der Roten Armee Fraktion ab.
Als Lichtblick in der Finsternis von „Suspiria“
Zwischendurch tritt er für den italienischen Hitchcock-Verehrer Dario Argento vor die Kamera. „Suspiria“ von 1977 ist nicht nur ein hypnotisches Hexenhorrorstück, sondern ein Film, der sehr genau weiß, dass der Tod, wie es bei Paul Celan heißt, ein Meister aus Deutschland ist. Da hat Kier ein offenes Ohr für eine junge Amerikanerin und ihre schlimmsten Befürchtungen, nämlich, dass das organisierte Morden in Deutschland keine Schauermär aus dem finsteren Mittelalter ist, sondern gegenwärtiger Alltag in einer renommierten Freiburger Ballettschule. Argentos Film legt eine verschnörkelte Brotkrumenspur, die von Grimms Märchen hin zum Antimodernismus und Antisemitismus des Freiburger Philosophen Martin Heidegger führt.
Und
dazwischen erscheint plötzlich Udo Kier. Es ist eine seltsam entrückte Tagszene
unter strahlender Sonne, er trägt ein mintgrünes Jackett, hat einen Drink in
der Hand. Ein kurzer Lichtblick, bei dem sich beinahe so etwas wie ein Flirt
zwischen ihm und der Hauptdarstellerin Jessica Harper entspinnt,
dann verschwindet er wieder aus dem Film, und die Finsternis kehrt zurück.
Zusammenarbeit mit Christoph Schlingensief
In der Zusammenarbeit von Kier und Christoph Schlingensief wird aus Proto endgültig Punk. Anlässe für die Liaison dieser ungleichen Nonkonformisten gibt es genug: Das Vakuum, das der mit Fassbinder verstorbene Neue Deutsche Film hinterlassen hatte, der lauter werdende Ruf rechter Geschichtsrevisionisten nach einem „Schlussstrich“ in der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit, der Taumel der deutschen Wiedervereinigung. „100 Jahre Adolf Hitler – Die letzte Stunde im Führerbunker“ oder „Das deutsche Kettensägenmassaker“ verarbeiten alte und neuere deutsche Weltmachtfantasien zu einer blutigen Farce: „Sie kamen als Freunde und wurden zu Wurst.“
Unvergesslich
ist die Episode in Gus Van Sants Stricherdrama „My Own Private Idaho“ von 1991, in der Kier einen lüsternen Freier namens Hans gibt.
Bevor es zum Sex mit Keanu Reeves und River Phoenix
kommt, legt er für die beiden eine Musikperformance im Hotelzimmer hin. Denn
früher einmal habe er die Bühnen der Welt bespielt, wispert er. Dann legt er
einen elektronischen Stakkato-Popsong auf, räumt das Mobiliar beiseite,
umschlingt eine Zimmerlampe wie einen Tanzpartner und beginnt zu singen: „Die
Seele der Menschen muss in ihren tiefsten Tiefen verängstigt werden!“ Und dann:
„Sitting on a bullet, thinking of power!“ Kurzhaarschnitt und schwarzer
Rollkragenpullover erwecken Assoziationen mit Postpunk und New Wave, während
die Lichtsetzung und das exaltierte Spiel wiederum an Cabaret und
Expressionismus erinnern. Und plötzlich ist alles ganz plastisch da und
spürbar, in diesem abgeschmackten Hotelzimmer im Nirgendwo von Idaho: die
morbide „Germanness“, ein Geruch von Verwesung und Tod, zugleich aber auch die
Hoffnungen der Avantgarden, die Nonchalance des Camps. Magisch wird es, als die
schönen Jungstars Keanu Reeves und River Phoenix, die auf dem Sofa lümmeln,
leicht bekleidet, einen Hamburger in der Hand und ein Glas Cola, plötzlich
lachen müssen über das, was sie da sehen. Und man denkt sich natürlich erst einmal,
dass diese zwei jungen Amerikaner gar nicht verstehen, welche Dämonen und
Geister aus Europa da zu ihnen herüberschwappen – alles zu lang her und zu weit
weg obendrein. Oder aber, und das ist der schönere Gedanke, sie fühlen es ganz
genau und zeigen sich instinktiv resilient – das Böse hat keine Macht über sie.
Im selben Jahr siedelt Udo Kier nach Kalifornien über, das bis heute seine Heimat ist. In der Rollenauswahl hingegen, meist mittlere bis kleinere Parts, springt er zwischen Europa und Amerika hin und her, zwischen Exploitationkino, Kunst und Mainstream. Er tritt in den skandinavischen Albträumen Lars von Triers auf oder in den abseitigen, hartgesottenen Filmen amerikanischer B-Autoren wie Rob Zombie und S. Craig Zahler. Er wolle in Amerika sterben, hat Kier einmal in einem Interview bekundet. Wenn es wirklich so kommen sollte, dann bitte frühestens in hundert Jahren.