Mit dem höchst kontroversen Dokumentarfilm „Tardes de soledad“ hat Albert Serra die „Goldene Muschel“ beim 72. Filmfestival in San Sebastián gewonnen. Darin wird das blutige Handwerk des Stierkämpfers Andrés Roca Rey aus nächster Nähe beobachtet. Ungewöhnlich viele Filme kreisten um das Sterben und den Tod. Der SIGNIS-Preis ging an „Los destellos“ von Pilar Palomero.
Beim 72. Internationalen Filmfestival in San Sebastián (20.-28.9.2024) standen 16 Filme im Wettbewerb, darunter auch neue Werke von dem Veteranen des politischen Thrillers, Costa-Gavras, oder dem deutschen Regisseur Edward Berger, dessen Vatikan-Thriller „Konklave“ mit wohlwollendem Applaus aufgenommen wurde.
Der spanische Regisseur Pedro Almodóvar erhielt den Preis der Stadt San Sebastián für sein Lebenswerk. Aus diesem Anlass wurde sein jüngster Film gezeigt, das Sterbehilfedrama „The Room Next Door“, das in Venedig jüngst mit dem „Goldenen Löwen“ ausgezeichnet wurde. „Mein Film erzählt von einer sterbenden Frau in einer sterbenden Welt. Ich bin überrascht, wie viele Filme hier in San Sebastián von Tod und Empathie handeln“, sagte der 75-jährige Filmemacher bei der Preisgala. Dazu gehörte auch „Le dernier souffle“ von Costa-Gavras über einen engagierten Palliativ-Mediziner, der viele Patientinnen und Patienten auf ihrem letzten Weg begleitet. Der lebensbejahende Film ging bei den Preisen allerdings leer aus.
Versöhnung am Sterbebett
Dafür votierte die katholische Signis-Jury für den spanischen Film „Los destellos“ von Pilar Palomero, die anrührend und eindringlich um eine Versöhnung über dem Sterbebett kreist. Ramón (Antonio de la Torre) ist am Ende seines Lebens angekommen; er ist unheilbar krank und wird bald sterben. Seine Tochter Madalen (Marina Guerola) stellt alles zurück, um ihn in den letzten Tagen seines Lebens zu unterstützen. Sie überzeugt sogar ihre Mutter Isabel (Patricia López Arnaiz), ihr bei der Betreuung ihres Ex-Manns zu helfen. Über der Pflege des Todkranken findet eine Wiederannäherung und vielleicht sogar ein gegenseitiges Vergeben zwischen den getrennten Eheleuten statt. All das zeigt Palomero ohne Melodramatik. Sie hat den baskischen Schauplatz der literarischen Vorlage in ihr Heimatdorf in Aragonien verlegt und gibt der Geschichte von Sterben und Empathie mit beeindruckenden Bildern einen bukolischen Rahmen.
Auch der chinesische Debütfilm „Bound in Heaven“ der Regisseurin Huo Xin handelt von Liebe und Tod, von letzten Fahrten und Irrfahrten einer jungen Frau und eines jungen Mannes durch China, von prekären Lebensverhältnissen, Abhängigkeit und Befreiung. „Bound in Heaven“ basiert auf einem gleichnamigen Roman von Li Xiuwen. Die dichte Atmosphäre, die Leichtigkeit und auch die Tragik des Films wurde für die beste Bildgestaltung und mit dem Fipresci-Preis der Internationalen Filmkritik ausgezeichnet.
In „On Falling“ setzt sich die 29-jährige portugiesische Filmemacherin Laura Carreira mit einer anderen harten sozialen Wirklichkeit auseinander. Unsentimental und eindringlich inszeniert sie die Einsamkeit und die Entfremdung einer jungen Arbeiterin, die Tag für Tag in einem riesigen Logistikzentrum in Schottland unter schwierigsten Bedingungen schuftet. Sie teilt sich die Auszeichnung für die beste Regie mit dem Spanier Pedro Martin-Calero und seinen Horrorfilm „El Llanto“, bei dem das Gespenst eines alten Mannes die Frauen verschiedener Generationen einer Familie umbringt.
Mit vielen Zwischentönen
François Ozon nimmt sich in „Quandvient l'automne“ fast heiter der Themen Alter, Familie, Liebe und Tod an, wofür er den Preis für das beste Drehbuch erhielt. Eine ähnliche Subtilität zeigt auch der Film „Bagger Drama“ von Piet Baumgartner, der als bester Nachwuchsfilm geehrt wurde. Mit vielen Zwischentönen und immer nahe am Protagonisten geht es dem Schweizer Regisseur und die Selbstzerstörung einer Familie, die über den Unfalltod der jüngsten Tochter nicht hinwegkommt.
Auch der Gewinner der „Goldenen
Muschel“, des Hauptpreises in San Sebastián, handelt vom Sterben, wenn auch auf
ganz andere Weise. „Tardes de soledad“ von Albert Serra
erzählt vom „Tod am Nachmittag“. Der provokative katalanische Regisseur widmet
sich in seinem ersten Dokumentarfilm dem Stierkampf. Der mit zahlreichen
Kameras gedrehte Film folgt hautnah dem jungen Torero Andrés Roca Rey und den
Stieren, seinen Mitkämpfern und den Pferden. Serra zeigt die Corrida als
tanzartig-brutale Bewegung zwischen Blut, Matsch, Sand und dem Speichel und den
Schreien des wütenden Stieres. Es gibt viele nächtliche Busfahrten und die
immer wiederkehrenden Worte und Abläufe. Eine Routine und Monotonie, die die
Absurdität und Sinnlosigkeit des Spektakels erahnen lassen.
In seiner beklemmenden künstlerischen Umsetzung ist „Tardes de soledad“ ein höchst kontroverser Film. Den Tierschützern fehlt die deutliche Distanzierung von dem blutigen Geschehen, die Freunde des Stierkampfes vermissen bei den bedrückenden Nahaufnahmen von Kampf, Blut und Wunden den Glamour des Spektakels in der Arena. Es gäbe, so Albert Serra bei der Preisverleihung, in einer komplexen Welt immer mehr Themen, bei denen man nicht nur einfach Ja oder Nein sagen könne.
Die Preise von San Sebastián 2024
Goldene Muschel: „Tardes de soledad“ von Albert Serra
Beste Regie (ex aequo): Laura Carreira für „On Falling“
Beste Regie (ex aequo): Pedro Martín-Calero für „El Llanto“
Sonderpreis der Jury: „The Last Showgirl“ von Gia Copppola
Beste schauspielerische Leistung: Patricia López Arnaiz in „Los destellos“
Bestes Drehbuch: François Ozon, Philippe Piazzo für „Quand vient L’automne“
Beste Kamera: Piao Songri für „Bound in Heaven“
Bester Nachwuchsfilm: „Bagger Drama“ von Piet Baumgartner
SIGNIS-Preis: „Los destellos“ von Pilar Palmero
FIPRECI-Preis: „Bound in Heaven“ von Huo Xin