Die Schule ist außerhalb der Familie der wohl prägendste Ort des Heranwachsens. Vom sechsten Lebensjahr an drückt jeder und jede mehr oder minder lange die Schulbank, manchmal mit Begeisterung, oft aus Gewohnheit, mitunter aber auch nur mit zusammengebissenen Zähnen. Das spiegelt sich in zahllosen Kinder- und Jugendfilmen, die sich dieser Lebenszeit mit einer großen Fülle an Themen, filmischen Formen und Ausdrucksweisen annehmen. Die Ausgabe von #ichsehewas zeichnet die wichtigsten Spuren der filmischen Beschäftigung mit der Schulzeit nach.
Lernen kann sehr beglückend sein. Das Wachstum der Fähigkeiten und die Entfaltung der Persönlichkeit erleben die meisten Menschen als bestärkende Erfahrung, die den Zugang zum gesellschaftlichen Leben eröffnet. „Kultur und Bildung sind unser geistiges Gewand. Sie verbinden uns mit anderen Menschen. Lernen gelingt durch gezielt gesetzte Herausforderungen, die idealerweise die Grenze zur Überforderung nicht überschreiten. Dazu braucht es Partnerschaft, Vertrauen und Respekt“, notiert Christian Exner in einem Essay des in Kooperation mit dem Deutschen Kinder- und Jugendzentrum Remscheid entstandenen Dossiers der Reihe #ichsehewas.
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Junge Menschen werden dadurch gestärkt und motiviert, die in ihnen schlummernden Fähigkeiten ans Tageslicht zu locken. Eine der prägnantesten Figuren des Kinos für diese Haltung ist der von Robin Williams gespielte Englischlehrer John Keating aus „Der Club der toten Dichter“, der seine Schüler sogar auf Tische steigen und schlechte Seiten aus Büchern reißen lässt, um sie zum selbstständigen Denken und Handeln zu motivieren. „Keating nimmt seine Schützlinge ernst und bereitet sie auf ein Leben vor, in dem sie sich mehr zutrauen, als es ihnen ihre Eltern oder das Lehrerkollegium vermitteln können“, skizziert Denis Sasse in seinem Aufsatz „Charismatische Rebell:innen in Lehrfabriken“. Darin untersucht er exemplarische Filme über außergewöhnliche Pädagogen, die Heranwachsende als Fährmann oder Fährfrau dabei begleiten, auf ihrer Individuation zu unbekannten Ufern aufzubrechen.
Von dem Filmtheoretiker Alain
Bergala leiht Sasse sich dafür den Begriff des „Passeurs“, bei dem das Vermögen
des individuellen Urteils eine zentrale Rolle spielt, weil solche Personen über
die Gabe verfügen, Unlust in Enthusiasmus zu verwandeln und den Unterricht als Initiationsritus
zu gestalten, der Neugier und Begeisterung wecken will. Genau das gelingt Robin
Williams als Lehrer Keating, wenn er seine Schützlinge dazu anleitet, über die
Erwartung der Eltern und die Anforderungen der Institution Schule hinaus den
eigenen Leidenschaften und Wünschen auf die Spur zu kommen.
„Oh Captain! My Captain!“
Bisweilen sind es aber gar nicht mal so Heroen wie John Keating, die zu „Oh Captain! My Captain!“-Rufen Anlass geben, sondern auch „normale“, alltägliche Pädagogen, die den Unterschied machen. So verweigert sich in „Die Schüler der Madame Anne“ eine ältere Lehrkraft, gespielt von Ariane Ascaride, an einem Gymnasium im Pariser Vorort Créteil „nur“ dem allgemeinen Unwillen im Kollegium, sich mit etwas schwierigeren Jugendlichen auseinanderzusetzen. Während eines Projektes über das Tagebuch von Anne Frank lernen nicht nur Schüler:innen, offen und ehrlich als Jugendliche zu sprechen und die Notizen der jungen Autorin auf ihr eigenes Leben zu beziehen. Auch die Lehrerin gewinnt ein anderes Verständnis für ihre Schutzbefohlenen und die Dinge, die ihren Alltag bestimmen.
Das ist enorm viel, was in solchen Filmen zum Thema wird: „Verstehen, Perspektiven eröffnen, Orientierung bieten, auf Fragen eingehen, damit man sich später im eigenen Leben zurechtfindet. Denn dort geht es ja auch nicht immer diszipliniert oder geordnet zu, wie es die schulischen Strukturen vorleben.“ Auch wenn sich nicht jeder Lebenslauf chaotisch und unvorhersehbar entwickelt, gehört das Durcheinander von Emotionen und Ereignissen doch zur Alltagserfahrung der meisten Menschen.
Das Einmaleins der Zauberei
Das gilt sogar für Figuren wie Harry Potter oder Hermine Granger, die über andere, magische Fähigkeiten als herkömmliche „Muggels“ verfügen. Doch auch sie können sich das Paradies nicht einfach herbeibefehlen, sondern müssen das Einmaleins der Zauberei ebenfalls mühsam erlernen. Auf einer beschwingten Reise durch eine Vielzahl magischer Klassenzimmer taucht Rochus Wolff in „Mut zum Ungewöhnlichen“ in die Welt von Hogwarts & Co. ein und wundert sich, dass dort zwar viel Kurioses, aber keineswegs Mathematik unterrichtet wird, obwohl angehende Zauberlehrlinge mitunter doch auch auf die Kunst des Dreisatzes angewiesen sind.
Allerdings geht es in den Träumereien über magische Fähigkeiten eher um Selbstermächtigungsfantasien und die Vision, etwas Besonderes zu sein. Und das zumeist in einem Umfeld mit anderen außergewöhnlichen Geschöpfen, oft auch in Internaten, die ein „Dampfkochtopf des sozialen Mit- und Gegeneinanders“ sind und überdies den Vorteil haben, dass „die Protagonisten vom Zugriff der Erwachsenen weitgehend befreit sind“. Auch unter Magier-Eleven wird um die Beziehung unter Gleichen gerungen, wobei das Mit- und Gegeneinander auch an magischen Schulen meist erst mühsam ausgehandelt werden muss.
Oft ist in solchen das Verhältnis von Gut und Böse, Klar und Diffus, fein säuberlich getrennt, doch „glücklicherweise findet man wenigstens ein paar Filme, in denen die Abgrenzungen aufweichen. So spielt ‚The School for Good and Evil‘ mit der Frage, ob es immer nur böse Hexen und gute Prinzessinnen geben muss – und ob man das tatsächlich am Äußeren ablesen kann.“ Interessanterweise gewinnt das Magische immer dort an Charme, wo es die Welt im Hintergrund illuminiert, etwa wenn im Hause von Ron Weasley das Geschirr sich von selbst spült. Wie überhaupt magische Filme, in denen nicht die Welt gerettet oder vor dem absolut Bösen bewahrt werden muss, mehr Platz für die Protagonisten und ihre dann doch eher alltäglichen Dinge haben. Denn neben allen Größenwahn- und Ermächtigungsfantasien geht es auch für Zauberlehrlinge primär ums soziale Mit- und Gegeneinander, um Selbstfindung und Wege, mit widerspenstigen Gefühlen und Energien klarzukommen.
Machtmissbrauch, Manipulation & „Schwarze Pädagogik“
Schule hat allerdings immer auch mit Machtverhältnissen, Über- und Unterordnung zu tun. Das lässt sich ausnutzen. Mal bewusst, mal unbewusst überschreiten Lehrer:innen in vielen Filmen Grenzen. Sie manipulieren, intrigieren, begeistern für problematische Werte und versprechen mit zweifelhaften Methoden die Entfaltung vernachlässigter Potenziale. Den dunklen Gegenfiguren zu strahlenden Überlehrern spürt Christopher Diekhaus in dem Aufsatz „Die Verführer:innen“ nach, der problematische Lehrpersonen und ihre Motive und Mittel thematisiert. Etwa der neuen Lehrerin Ms. Novak, die in „Club Zero“ von Jessica Hausner an einem elitären englischen Internat das Kontrastprogramm zu „Der Club der toten Dichter“ gibt. Denn wo Mr. Keating die Jugendlichen für die Schönheit der Kunst und die Kraft des freien Denkens sensibilisiert, setzt die von Mia Wasikowska gespielte Pädagogin auf Indoktrination und Dogmatismus. In ihrem Unterricht wird ein beklemmender Gruppendruck etabliert, in dem das Essen zur Glaubensfrage wird. Die Lehrerin ist in diesem Geheimbund die oberste Kontrollinstanz, die tadelt, lobt und ihre Schüler:innen dazu bringt, schließlich ganz auf Nahrung zu verzichten.
Eine weniger subtile, aber ähnlich intensive Studie über Machtmissbrauch findet sich in „Whiplash“, wo ein begabter Schlagzeuger in die Fänge eines perfektionistischen Lehrers gerät, der mit stechendem Blick und gebieterischer Gestik über die Studierenden herfällt, sie aufs Übelste beleidigt und mitunter sogar körperlich angeht. Und anhand des Jugendfilms „Die Welle“ analysiert Diekhaus, wie sich Manipulation und Gleichschaltung auch gegen die Intentionen eines Lehrers entfallen können, wenn der die Kontrolle über eine von ihm losgetretene Bewegung verliert. Denn der Versuch, im Rahmen einer schulischen Projektwoche die Schüler dafür zu sensibilisieren, wie leicht sich autokratische Strukturen bilden können, mündet in einer Entwicklung, die sich zur Katastrophe hochschaukelt. Schmerzhaft wird darin deutlich, wie wichtig es ist, Autoritäten nicht auf ein Podest zu stellen, sondern die Faszination charismatischer Persönlichkeiten immer auch zu hinterfragen.
Einer extremen Form manipulativer Pädagogik geht Christian Exner in seinem Essay „Unbarmherzige Erziehung“ nach, die Filme ins Zentrum rückt, in denen Schulen zum Ort der Demütigung und Unterdrückung werden. Mustergültig findet sich das in „Napola“ veranschaulicht, in dem es um eine nationalsozialistische Eliteschule geht, in der Jugendliche für den Krieg der Nazis vorbereitet werden. „Alle pädagogischen Bemühungen sind einer mörderischen Idee untergeordnet: dem soldatischen Opfer für das Hitler-Regime.“
Menschen brechen, um sie
gefügig zu machen. Auf diese Formel lässt sich die „Schwarze Pädagogik“
bringen, was man aufs Schrecklichste auch bei Wolfgang (Louis Hofmann) in „Freistatt“
miterlebt, der 1968 in ein diakonisches Fürsorgeheim gesteckt wird, in dem
arbeitslagerähnliche Zustände herrschen. Als der Junge gegen die physische wie
psychische Misshandlung aufbegehrt, verschlimmert er seine Lage noch. In der
Konsequenz, so Exner, stabilisiert sich das sadistische Machtsystem wie ein
Perpetuum mobile – und züchtet die Missetäter:innen, die es vermeintlich
bekämpft.
„Erziehung mit Druck, Zwang, Sadismus, Autoritätsgehabe, Schikane, sexueller Missbrauch und schwere Gewalt ziehen sich als Gegenbild zu den Charismatikern aus den Toten-Dichter-Clubs oder Wunderpädagogen wie Herrn Bachmann durch die Kinokultur.“ Sich ihnen und ihren Schmerzen auszusetzen, ist angesichts der wachsenden gesellschaftlichen Kräfte, die sich moralisch wieder zurückorientieren, wohl unumgänglich.
Was Kinder und Jugendliche filmen
Einen ganz anderen Blick auf das Thema Schule wirft Stefan Stiletto in seinen Beobachtungen zu den „Innenperspektiven“ von Schülern und Schülerinnen, die selbst die Kamera in die Hand nehmen. Denn dort taucht – wenig überraschend – die Schule als ein dominanter Schauplatz auf. Vor allem bei den jüngeren Altersgruppen spielt die Schule eine zentrale Rolle, gerne auch als Ort des lustvollen oder komischen Regelverstoßes oder fantastischer Abweichungen, wenn man in der Fantasie dem langweiligen Unterricht entflieht. Gerne wird dabei mit alternativen Sichtweisen und Genres gespielt. „Was wäre, wenn…?“ ist ein beliebtes Motiv, mit dem sich vertraute Orte augenzwinkernd verfremden lassen und in einem ganz neuen Licht erscheinen.
Mit etwas mehr Ernst entstehen dann sogar Filme, die mehr als nur Unterhaltung im Sinn haben und sich mit brisanten Themen beschäftigen, etwa der Frage: „Wer hat Angst vorm Abitur?“ Selbstredend spielt das Verhältnis zwischen den Kindern und den Lehrern eine große Rolle, auch der Wunsch, dass man gut miteinander auskommt und sogar ein harmonisches Verhältnis entwickelt.
Je älter die Nachwuchsfilmschaffenden werden, desto düsterer entwickeln sich auch ihre Filme. So finden sich unter den Einreichungen für den Deutschen Jugendfilmpreis regelmäßig auch Filme, die von Amokläufern erzählen. „Ein gewichtiges und komplexes Thema“, auch wenn die erzählerischen Mittel dann oft zu kurz greifen. Auch das Thema Mobbing wird ähnlich oft angegangen, auch wenn Betroffenheit und Tragik die konstruktive Auseinandersetzung dabei öfters verdrängen. Die Vielzahl der Filme zu diesem Thema macht sichtbar, wie dringlich dieses ist. Auch wenn die Mittel, davon zu erzählen, dem noch nicht angemessen sind.
Hinweis
Schulfilme mit lustvoll-fantastischen Brechungen der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen sind ebenso häufig wie sehr ernsthafte
Auseinandersetzungen mit charismatischen wie dämonischen Pädagogen, Autoritäten
und Strukturen. Eine Auswahl herausragender Schulfilme findet sich hier.