© 2024 Searchlight Pictures (Emma Stone in "Poor Things")

Auf der Haut geht unter die Haut - Kostümbild bei Yorgos Lanthimos

Wie die Kostümbildnerinnen die Figuren von Yorgos Lanthimos in „Poor Things“ und „Kinds of Kindness“ definieren

Veröffentlicht am
04. September 2024
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Bei der „Oscar“-Verleihung 2024 ging der Preis fürs beste Kostümbild an Holly Waddington für ihre spektakulären Roben in Yorgos Lanthimos’ „Poor Things“. Und obwohl der darauffolgende Lanthimos-Film „Kinds of Kindness“ kein historischer „Kostümfilm“ ist, glänzte er erneut mit ausdrucksstark-ungewöhnlichen Outfits. Die Kostümbildnerin Abigél Szilas spürt zwischen seidigen Roben und engen Rollkragenpullis, Mega-Puffärmeln und Minikleidern den erzählerischen Qualitäten der äußeren Hüllen nach.


Die ersten Kinomonate des Jahres 2024 war für Fans des Regisseurs Yorgos Lanthimos besonders erlebnisreich, da gleich zwei neue Filme des absurd-philosophischen Filmemachers starteten. Zunächst „Poor Things“, und etwas später dann die Anthologie „Kinds of Kindness“. Die Settings dieser beiden Filme könnten nicht unterschiedlicher sein. „Poor Things“ ist eine fantastisch-schauerromantische Coming-of-Age-Tragikomödie, die in einer viktorianisch anmutenden Vergangenheit von einer Frau handelt, die von einem Wissenschaftler in Frankenstein-Manier aus dem Körper einer verstorbenen Erwachsenen und dem Gehirn eines Babys erschaffen wurde. „Kinds of Kindness“ spielt dagegen in der Gegenwart und erkundet beunruhigende Machtdynamiken in Form eines nur lose miteinander verbundenen Triptychons. Beide Welten wurden nicht zuletzt auch dank der Arbeit der Kostümbildnerinnen Holly Waddington („Poor Things“) und Jennifer Johnson („Kinds of Kindness”) auf spektakuläre Weise visuell zum Leben erweckt.

"Oscar"-prämiert: Die Roben in "Poor Things" (© The Walt Disney Company/20th Century Studio)
"Oscar"-prämiert: Die Roben in "Poor Things" (© The Walt Disney Company/20th Century Studio)

Waddington und Johnson nähern sich mit ganz unterschiedlichen Ansätzen der Charakterisierung der jeweiligen Welten und Figuren. Um den Unterschied zwischen den beiden Konzeptionen zu verstehen, werden im Folgenden die Rolle von Farbe, Transformation und Dissonanz in den jeweiligen Kostümen analysiert.


Farben, die erzählen

Die Bedeutsamkeit der Tönung fällt schon zu Beginn von „Poor Things“ auf, wenn das erste, monochromatische Bild in bodenlosem Blau auf der Leinwand erscheint. Victoria, Bellas Mutter und die vorherige Bewohnerin des Körpers der Protagonistin (beide gespielt von Emma Stone), ist in diesem Prolog Sekunden davon entfernt, in den Tod zu springen und von der Themse verschluckt zu werden, wobei die Welt der Farben den Tod bereits vorausnimmt. Victorias metallisch-kobaltfarbenes Kleid macht sie schon als Lebende zu einem Teil der Elemente; das Kleid korrespondiert mit dem gespenstischen Blau des bewölkten Himmels und der Farbe des tödlichen Wassers.


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Kinds of Kindness“ verfügt ebenfalls über wassergetränkte Charaktere. Im zweiten Teil des Triptychons, „R.M.F. is Flying“, kehrt die verschollene Meeresbiologin Liz (Emma Stone) zu ihren Liebsten zurück. Nur ihr Mann Daniel (Jesse Plemons) realisiert, dass sie nicht mehr dieselbe Person ist, was unter anderem durch ein Kostüm-Detail offenbart wird: Die Schuhe von Liz passen der Heimkehrerin nicht. Er reagiert zunehmend feindselig auf sie, was schließlich eine blutige Wendung nimmt. Die vermutete Hochstaplerin kleidet sich aus der Garderobe von Liz in einem praktisch-bequemen Look mit Funktionshosen und locker geschnittenen Hemden. Dieser scheinbar so nüchterne Stil weist jedoch Farben auf, die mit Hintersinn gewählt sind. Sie erinnern ans Meer, in dem Liz einst verschwand und aus dem die Hochstaplerin vermutlich kommt. Gegen Ende der Episode trägt die falsche Liz eine hellblaue Jacke über einem gelben Hemd – unter anderem in einer Szene im Krankenhaus, in der die Farbe der Windbreaker-Jacke fast mit der blaugrünen Wandfarbe verschmilzt. Ein an sich angenehm-harmloser Ton, der an ruhige Gewässer erinnert, hier aber zur „Tarnfarbe“ einer Figur wird, die sich an ihre Umgebung anpassen will, aber letztlich daran scheitert.

Die Farben erinnern ans Meer: Emma Stone als rätselhafte Doppelgängerin in "Kinds of Kindness" (© 2024 Searchlight Pictures)
Die Farben erinnern ans Meer: Emma Stone  in "Kinds of Kindness" (© 2024 Searchlight Pictures)

Ganz am Ende, wenn die falsche Liz ihre Jacke auszieht, um sich ein letztes Mal für Daniel zu verstümmeln und ihre eigene Leber für ihren Mann herauszuschneiden, zieht sie die Jacke aus und legt das gelbe Hemd darunter frei – ein Farbton, wie er seit Jahrhunderten für die Wasserschutzkleidung von Fischern und Seeleuten verwendet wird, um bei Nebel oder stürmischer See besser gesehen zu werden. Diese Signalfarbe nützt der falschen Liz allerdings nichts mehr; sie stirbt und muss das Feld einer anderen überlassen. Die echte Liz taucht in der Tür auf und umarmt glücklich ihren Mann. Beide tragen gelb – sie haben einander gefunden. Die falsche Liz wollte sich mit ihrem Blau anpassen, aber Farben dienen manchmal dazu, die Deplatziertheit einer Figur auszudrücken.


Das Verhältnis von Figur und Welt

In „Poor Things“ ist die Kinoleinwand während Bellas „Kindheit“ in der Villa von Godwin „God“ Baxter (Willem Dafoe) schwarz-weiß eingefärbt, bis sie ihre erste eigene Entscheidung trifft und mit dem ausschweifenden Anwalt Duncan Wedderburn (Mark Ruffalo) nach Lissabon durchbrennt. In Portugal angekommen, beim „furiously jumping“ – Bellas Ausdruck für Sex mit ihrem Liebhaber –, explodiert die Leinwand in dynamischen Gelb- und Orange-Tönen. Bellas Welt öffnet sich in einem überschwänglichen Coming-of-Age-Prozess.

Im echten Leben hat die typische Unbeholfenheit von Teenagern damit zu tun, dass die Körper sich verändern und im „Dazwischen“ zwischen Kindheit und Erwachsensein stecken. Auch Bella steckt, obwohl ihr Körper schon der einer Erwachsenen ist, in einem solchen „Dazwischen“, was nicht nur durch das Schauspiel von Emma Stone, sondern auch durch die Kostüme dargestellt wird. Die Figur wirkt buchstäblich wie ein bunter Hund. Ihre babyblauen und babyrosa Kleider mit riesigen Gigot-Ärmeln und den ultrakurzen unteren Bedeckungen, die ihren Beinen fohlenhafte Länge geben, bringen Bellas aktuelle pubertäre Verfassung zum Ausdruck.

Im Coming-of-Age-Taumel (© 2024 Searchlight Pictures)
Im Coming-of-Age-Taumel (© 2024 Searchlight Pictures)

Diese Verspieltheit wird später durch den Intellektuellen Harry (Jerrod Carmichael) zerstört, der es nicht ertragen kann, dass eine so intelligente junge Frau so unreif bleibt. Er zeigt ihr das Leid der Armen in Alexandria. In dieser Szene trägt Bella bezeichnenderweise ein weißes Rüschenkleid, das ihr Privileg als reiche Engländerin symbolisiert und an die traditionelle Kolonialkleidung im britischen Afrika erinnert. Ihre und Harrys weiße Kleider sind wie helle Farbkleckse auf Alexandrias vergilbtem Stück Papyrus.

Kinds of Kindness“ nutzt die Bekleidungsfarben der Sektenmitglieder in der dritten Episode „R.M.F. Eats a Sandwich“ hingegen als Marker der Entfremdung. Bei der Sekte handelt es sich um einen merkwürdigen, mit Wasser-Symbolik, seltsamen Reinheitsvorstellungen und Sex hantierenden Kult, der davon besessen ist, nicht von fremdem Sperma „kontaminiert“ zu werden. Die Kleidung der Mitglieder ist in fast schon schmerzhaft-grellen Tönen gehalten, vor allem die beide Leiter Omi (Willem Dafoe) und Aka (Hong Chau) stechen förmlich ins Auge.

Schrill: Willem Dafoe als verstrahler Sektenguru (© 2024 Searchlight Pictures)
 Willem Dafoe als verstrahlter Sektenguru (© 2024 Searchlight Pictures)

Beide betreiben einen esoterisch verbrämten Personenkult um sich, indem sie beispielsweise die Wasserquelle der Gemeinde mit ihren eigenen Tränen „segnen“. Schon die unangenehmen Farben verdeutlichen, dass es sich hier um eine künstliche, unauthentische Spiritualität handelt, die nur dazu dient, den Machtanspruch der Leiter gegenüber den Gläubigen zu zementieren, was das übergreifende Thema des Films ist.


Verwandlungen am Körper

Die Darstellung dieser Sektenführer war für Dafoe wie auch für Chau – ähnlich wie für ihre Mitspieler Jesse Plemons, Emma Stone und Margaret Qualley – nur eine von drei Rollen innerhalb des Films. Die jeweils drei Sets von Kostümen pro Figur mussten sich also markant genug voneinander unterscheiden, um die Schauspieler:innen von Episode zu Episode sichtbar zu verwandeln. Jennifer Johnson hat darauf genauestens geachtet, von den Socken bis zur Unterwäsche. Sie musste für jede Rolle unterschiedliche stilistische Regeln aufstellen, um sie effektiv voneinander zu trennen, und verwandte dafür Muster, Silhouetten und Farben. Das lässt sich beispielhaft an den Outfits von Emma Stone verdeutlichen.

In der ersten Sektion, „Der Tod von R.M.F.“, kontrolliert der Businessman Raymond (Dafoe) sorgfältig jeden Aspekt des Lebens seiner Angestellten, im Verlauf der Episode auch das von Rita (Emma Stone). Die Outfits, die Raymond ihr vorschreibt, sind völlig unpraktische, unbequeme Hingucker; sie machen aus der Frau, die eigentlich Optikerin ist, eine sexualisierte Puppe mit knappen Minikleidern in glänzenden Mardi-Gras-Mustern und schillernden Tönen, mit hautengen Silhouetten, und hohe Stilettos.

Vom Boss eingekleidet: Emma Stone in Episode 1 von "Kinds of Kindness" (© 2024 Searchlight Pictures)
Vom Boss eingekleidet: Emma Stone in Episode 1 von "Kinds of Kindness" (© 2024 Searchlight Pictures)

Das ist der größtmögliche Kontrast zu den eher sportiv-lässigen Kleidern in hellen Uni-Farben, die Stone als Meeresbiologin Liz/Doppelgängerin in Episode 2 trägt. Im dritten Teil nimmt Stone die Rolle von Emily an, einem Sektenmitglied, das den Auftrag hat, eine Frau mit der Gabe zu finden, Tote ins Leben zurückzubringen. Dabei trägt sie einen braunen Anzug – eigentlich der dezent-professionelle Business-Look schlechthin, der hier allerdings durch den weiten Schnitt, die kontrastreich-kollidierende Kombination mit einer lila Bluse und den ins Orange tendierenden, ein bisschen nach den 1970er-Jahren aussehenden Ton des Brauns etwas dezidiert Exzentrisches hat.


Von Mutter zu Tochter, vom Kleinkind zur Frau

Die Kostüme spielen in „Kinds of Kindness“ bei der Verwandlung der Schauspieler:innen von Rolle zu Rolle eine zentrale Rolle. Die Verwandlung, um die es in „Poor Things“ geht, ist dagegen direkt Teil der Geschichte. Dort gibt es die durch die Hirntransplantation vollzogene Verwandlung von der toten Mutter (Victoria) zur Tochter (Bella) innerhalb desselben Körpers, und zum anderen Bellas Coming-of-Age-Transformation durch Reifung vom Kind in einem erwachsenen Körper zur selbstbewussten Frau.

Die erste Verwandlung ist abrupt: Victoria stirbt im Prolog in dem melancholisch tiefblauen Kleid und ersteht als Bella. Über das Leben und den Charakter der Mutter erfährt man nur wenig; bei diesem Wenigen spielen jedoch einmal mehr die Kostüme eine wichtige Rolle. Im Prolog sieht man Victoria zunächst von hinten in dem blauen Kleid, an dem die segmentierten Ärmel, die den Armen fast etwas Gliederbeinig-Insektenhaftes geben, die auffälligste Merkmale sind und an eine Achselrüstung erinnern. Eine militärisch-strenge Anmutung, die sich auch in Victorias zweitem Kleid zeigt, wenn es um Bellas Begegnung mit ihrem Vater/Victorias Ehemann geht sowie Bellas kurzzeitige „Rückverwandlung“ in die Tote, als der Ehemann sie beziehungsweise ihren Körper als rechtmäßiger Gatte zurückfordert. Die Ärmel und das Mieder der orange-lila Robe sind mit Soutache geschmückt, einer typischen Verzierung von Uniformen. Das kommt nicht von ungefähr: Victoria war die Frau eines brutalen, chauvinistischen Generals namens Alfred Blessington (Christopher Abbott); ihr Stil spiegelt also das Milieu wider, dem sie entkommen wollte: scharf, militaristisch, aggressiv.

Spiel mit Soutache-besatz an Uniformen an: bella in einem Kleid ihrer toten Mutter (© 2024 Searchlight Pictures)
Spielt mit Soutache-Besatz auf Uniformen an: Bella im Kleid ihrer toten Mutter (© 2024 Searchlight Pictures)

Im Gegensatz dazu trägt die eigentliche Bella, deren Entwicklung man im Film mitverfolgt, weichere Elemente: Polster, Rüschen, Strick, Pastellfarben und ballonartige Ärmel. Diese kindlichen Elemente verdeutlichen Bellas geistiges Alter trotz ihres erwachsenen Körpers und erzeugen einen scharfen Kontrast zu Victorias steifen Kleidern. Das bringt auch den Unterschied zwischen den Lebensumständen von Mutter und Tochter zum Ausdruck. Obwohl Bella von der Welt abgeschirmt wird, ist ganz offensichtlich, dass die Kontrolle, die ihr liebevoller Erschaffer/Vater über sie ausübt, ihr mehr Spielraum lässt, als Victoria je von ihrem besitzergreifenden Ehemann bekam.

Die andere Tendenz der Transformation zeigt sich in Bellas Reise durch die Mode, die ihre Selbstwerdung auf dem Weg von England nach Lissabon, übers Meer nach Alexandria, nach Paris und schließlich wieder heim nach London visuell begleitet. Von gepolsterten Morgenmänteln und kindliche Rüschenblusen über experimentelle-verspielte Modelle, wie sie sie in Lissabon und Paris trägt, bis hin zu schlichten, farbneutral-eleganten Ensembles reift sie sozusagen stilistisch, während ihr Körper unverändert bleibt. Hier zeigt sich die Macht der Kostümbildner: Die Kleidung ist keineswegs nur ausschmückendes Beiwerk, sondern ein unverzichtbares narratives Element.

In Paris begegnet uns eine deutlich gereifte Bella (© The Walt Disney Company/20th Century)
In Paris begegnet eine gereifte Bella (© The Walt Disney Company/20th Century)

Dissonanz und Humor

Die absurde Natur von „Kinds of Kindness“ ist zum Teil auf den Kontrast zwischen der schockierend-verstörenden Handlung und den humorvoll-skurrilen Elementen zurückzuführen; ein krasser, aber zugleich organisch wirkender Mix. Ein anschauliches Beispiel dafür taucht im ersten Teil auf, in einer Szene zwischen Raymond und seinem Angestellten Robert (Jesse Plemons). Raymond nimmt Robert unter die Lupe. Er lässt ihn erst reden, wenn sein Auftritt perfekt ist, während er selbst einen einfachen schwarzen Rollkragenpullover trägt, der ans Stereotyp des genialischen Künstlers aus den Beatnik-Zeiten erinnert. Doch dann steht Raymond plötzlich auf, wodurch seine biedere Bundfaltenhose und schwarze Kniestrümpfe mit braunen Schuhen sichtbar werden, was bei diesem Firmenschurken so abrupt und unerwartet ist, dass es einen wirkungsvollen komödiantischen Effekt erzielt.

Diese Szene ähnelt sehr dem Ende von „Poor Things“, als Bella beginnt, Medizin zu studieren. Sie trägt ihr bisher ernstestes Kostüm; zum ersten Mal ist sie ganz in Schwarz gekleidet und passt perfekt zu den anderen Studenten im Auditorium. Zumindest so lange, bis sie aufsteht und ihren Minirock und ihre hohen Socken freigibt. In Bellas Fall zeigt diese plötzliche Enthüllung, dass sie sich zwar zu einer kultivierten jungen Frau entwickelt hat, ohne dass darüber aber ihre Marotte verschwunden wäre, auf Bein- und Bewegungsfreiheit zu setzen. Reifung bedeutet eben nicht Konformität!

Ein weiterer visueller Gag, den Willem Dafoe in „Kinds of Kindness“ herrlich nonchalant präsentiert, ist die infam orangefarbene Speedo-Badehose im dritten Teil. Der allmächtige-manipulative Sektenguru tritt in der lustigsten aller Badehosen auf. In den Outfits seiner Sektenmitglieder Emily (Emma Stone) und Andrew (Jesse Plemons), den Hauptfiguren der Episode, findet sich zudem ein skurriles Echo des Badeklamotten-Looks: Zu ihren Anzügen tragen die beiden, denkbar unpassend, Wassersandalen. Die Kostümdesignerin erklärte in einem Interview: „Sie sind so sehr in ihrer Sekte verwurzelt, dass sie es auch als Unternehmer nicht schaffen, sich ganz in der Gesellschaft zurechtzufinden; das drückt sich in den Wassersandalen aus.“


Wie Kleider getragen werden

Nochmals zurück zum ersten Teil rund um den Geschäftsmann Raymond, der seine Angestellten/Liebhaber gnadenlos dominiert und bis in ihren Kleidungsstil kontrolliert. Raymonds Stilempfinden ist von dem Magnaten Gianni Agnelli mit seinem berühmten Sprezzatura-Stil inspiriert, einer gewissen Eleganz, die mit scheinbar mühelosen Elementen perfektioniert wird. Raymonds feine italienische Anzüge werden mit großen Krawatten mit lockeren Knoten im Stil der 70er Jahre gepaart, was jedoch nicht bedeutet, dass er mit der Mode nicht Schritt halten kann. Es zeugt von einem starken Selbstbewusstsein und einer subtilen Exzentrik, die zu dieser Figur passt, die Menschen nicht mal zu seinem Vorteil kontrolliert, sondern nur zu seinem Vergnügen.

Der Meister und seine Puppe in Episode 1 von "Kinds of Kindness" (© Atsushi Nishijima, Searchlight Pictures/The Walt Disney Company)
Der Meister und seine Puppe in "Kinds of Kindness" (© Atsushi Nishijima, Searchlight Pictures)

Neben Robert (Jesse Plemons) ist vor allem eine junge Frau namens Vivian (Margaret Qualley) Gegenstand von Raymonds Herrschsucht. Beide reagieren sehr unterschiedlich auf ihre Rolle als Objekt. Während Robert sich in den feinen Anzügen und den engen, bunten Rollkragenpullovern, die Raymond ihm aufzwingt, sichtlich unwohl zu fühlen scheint, trägt Vivian ihre seidig-dünnen, Ultramini-Kleider offenbar mit lässiger Selbstverständlichkeit. Durch die Art und Weise, wie die Schauspieler ihre jeweiligen Kostüme tragen, entsteht eine merkliche Dissonanz zwischen den beiden Figuren, obwohl ihre Position sehr ähnlich ist. Das wirft ein interessantes Thema auf: Beide werden von Raymond objektiviert – aber ist das auch in beiden Fällen ein Missbrauch, eine toxische Beziehungskonstellation? Welche Rolle spielt dabei der „consent“, die Freiwilligkeit? Kann es eine solche in so krassen Abhängigkeitsverhältnissen überhaupt geben? Dies ist eine der konfliktreichen Fragen über Machtspiele und Manipulation, die den ganzen Film bestimmen.

Sowohl „Poor Things“ als auch „Kinds of Kindness“ sind beeindruckende Mischungen aus einzigartigen visuellen Fantasien, seltsamem Humor, provokanten Themen und widersprüchlichen Gefühlen. Neben dem Schauspiel und dem Drehbuch tragen dazu auch die Kostüme und die Art, wie mit ihnen gespielt wird, das ihre dazu bei.

Die mit einem „Oscar“ geehrte Arbeit von Holly Waddington für „Poor Things“ fällt dabei schneller ins Auge, schließlich ist der Film als Historienstoff mit seinen Gigot-Ärmeln, Korsetts und langen Röcken das, was man als waschechten „Kostümfilm“ bezeichnet. Aber auch die von Jennifer Johnson entworfenen Kostüme für „Kinds of Kindness“ glänzen durch ihre Durchdachtheit, ihren Anspielungsreichtum und dem, was sie visuell zur Ausgestaltung der Figuren leisten. Mit ihrer detaillierten Charakterisierung gelingt es Johnson, die Vielzahl an Personen, die diesen Episodenfilm bevölkert, zu definieren, noch bevor die jeweiligen Figuren irgendetwas sagen. Obwohl beide Filme oft ins Satirisch-Karikierende spielen, werden alle Figuren zu echten Menschen mit ganz unterschiedlichen Persönlichkeiten.


Es wird bunter

Die Filme von Lanthimos sind in den letzten Jahren im Vergleich zu seinen vorherigen Filmen „The Favourite“ (2018), „The Killing of a Sacred Deer“ (2017) und „The Lobster“ (2015) fantastischer und bunter geworden. Für seinen kommenden Film „Bugonia“ (2025) will Lanthimos wieder mit Emma Stone und Jesse Plemons zusammenarbeiten, doch eine Kostümbildnerin ist noch nicht bestätigt. Es hat für Lanthimos anscheinend schon Tradition, für diesen Job stets einen neuen Profi zu finden. Es ist nicht leicht, sich vorzustellen, wer das neue Gesicht des Surrealismus erschaffen wird!


Literaturhinweise

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