© Velvet Films/RTBF („Les enfants perdus“)

Das Filmfestival Brüssel

Eindrücke vom 7. Internationalen Filmfestival in Brüssel (25.6.-3.7.2024)

Veröffentlicht am
18. Juli 2024
Diskussion

Bereits vor 50 Jahren fand erstmals das Internationale Filmfestival in Brüssel statt. Nachdem es kurzzeitig eingestellt worden war, existiert es seit 2018 in der zweiten Auflage und hat sich zum Geheimtipp gemausert. Trotz vergleichsweise bescheidenem Budget kann das Festival bei seiner 7. Ausgabe (25.6.-3.7.2024) mit zahlreichen Entdeckungen aufwarten. Ein Schwerpunkt galt 2024 Filmen über Familien, Übergänge und der Suche nach den eigenen Wurzeln.


Das 1974 in Brüssel gegründete internationale Filmfestival wurde nach organisatorischen und finanziellen Problemen 2016 eingestellt. Zwei Jahre später wagte man eine Neuauflage, die inzwischen mit den Wettbewerbskategorien International, National und Directors’ Week aufwartet. 2024 gab es neben Events für Brancheninsider – einen Koproduktionsmarkt, Angebote zu Themen wie „Music: Better all an Expert“, „The Imaginaries and Inclusion in Belgian Cinema“ – auch eine kleine Retrospektive mit Wim Wenders’ „Im Lauf der Zeit“, „Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs“ von Pedro Almodóvar, Andrzej Wajdas „Asche und Diamant“ und Milos Formans „Die Liebe einer Blondine“.

Das Brussels International Film Festival (BRIFF) ist im Vergleich zu etablierteren, gleichzeitig stattfindenden Veranstaltungen Ende Juni kein großes Festival, es muss die Konkurrenz zu Karlovy Vary (28. Juni bis 6. Juli) und zum Filmfest in München (28. Juni bis 7. Juli) fürchten. Das Budget betrug 2023 rund 1,3 Millionen Euro, inklusive beigestellter Serviceleistungen. Im Wahljahr 2024 fiel die Unterstützung etwa 40 Prozent geringer aus. Die Personalausstattung ist mit sechs ganzjährigen Angestellten für das BRIFF und ein mitorganisiertes Kurzfilmfestival sehr bescheiden. Die Pressebegleitung beschränkt sich auf Ankündigungen, Starinterviews und ein Abschlussresümee. Infrastruktur und Gäste-Präsenz geraten da schnell an ihre Grenzen.


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Vielversprechende Produktionen aus allen Sektionen waren in der Regel bereits auf anderen (europäischen) Festivals zu sehen, mit Ausnahme einiger Filme, die aus Belgien selbst stammen. „Wir sind immer noch ein junges Festival, und es ist sehr schwer, Welt- oder internationale Premieren zu bekommen“, sagt Céline Masset, die mit Pascal Hologne das Festival leitet. Deshalb konzentriert man sich in der belgischen Metropole auf die einheimische Publikumsansprache. Dennoch sollten die Zuschauerzahlen angesichts der multikulturellen Bevölkerung und eines großen studentischen Reservoirs größer ausfallen.

Im Lauf der Zeit (© Wim Wenders Stiftung)
Im Lauf der Zeit (© Wim Wenders Stiftung)


Die Imagination nähren

Programmtechnisch hat das 7. Internationale Film Festival in Brüssel eine ausgewogene Mischung an Dokumentar- und Spielfilmen präsentiert, die Cineasten interessante Beiträge, einschließlich gut besuchter Kino-Vorabpremieren, versprach. „Kinds of Kindness“ von Yorgos Lanthimos, „To the Moon“ mit Scarlett Johansson und Channing Tatum sowie „Emilia Perez“ von Jacques Audiard stachen dabei heraus. Als thematischen Leitfaden durch das diesjährige Festivalprogramm warb man mit „Familie, Übergang, Spurensuche zu den eigenen Wurzeln. Diese Verbindung zu unseren Wurzeln kreiert und nährt unsere Imagination.“

Die Auseinandersetzung mit traditionellen Familienstrukturen und deren Transformation bestimmte die Reflexion von individuellem wie gesellschaftlichem Versagen. Viele filmische Entwicklungsgeschichten boten eine Art psychologisch-moralischer Gewissenserforschung: als Zeichen von Veränderung auf Seiten mehrerer Generationen, gezeichnet von unterschiedlichen ökonomischen wie historischen Erfahrungen und Schicksalen. Und viele Filmemacher(innen) bewiesen – in dokumentarischen wie fiktiven (Misch-)Formaten – ein besonderes Gespür für eine gelungene Präsentation.

Das Spielfilmdebüt der Belgierin Michèle Jacob, der sanfte Horror-Genrefilm „Les enfants perdus, erinnert an Peter-Pan-Geschichten. Vier Geschwister, allein in einem abgelegenen, verwunschenen Haus, sind ihren eigenen Ängsten ausgesetzt. Die Eltern sind verschwunden, ein Mädchen hört seltsame Stimmen hinter den Tapeten, abends leuchten Augen eines Monsters im Wald. Allerdings erliegt die in Karlovy Vary uraufgeführte Produktion ihrer dünnen Geschichte. Musikalisch dick aufgetragen, wirken die psychologischen Untertöne, mögliche Verletzungen in der kindlichen Entwicklung insinuierend, in der omnipräsenten traumatischen Atmosphäre aufgesetzt.

Emilia Pérez (© Neue Visionen)
Emilia Pérez (© Neue Visionen)


Entfremdung innerhalb traditioneller Konventionen

Packender fällt „Les miennes“ aus, das dokumentarische Filmdebüt der marokkanisch-belgischen Regisseurin Samira El Mouzghibati. Streng wacht eine tiefgläubige, im dünnbesiedelten marokkanischen Rif-Gebirge früh verheiratete muslimische Mutter nach Auswanderung der Familie nach Belgien über die Ausbruchsversuche ihrer fünf Töchter. Die Entwicklungsgeschichte einer Entfremdung innerhalb traditioneller Konventionen wird genährt vom legeren Lebenswandel und Selbstfindungsprozess innerhalb der Familie. Bis die Mutter das Schweigen brechen kann, braucht es Zeit, die ihr der Erzählrhythmus gibt. Ein faszinierender 360-Panoramaschwenk über zerfallene Häuser, karge Landschaften ihrer marokkanischen Heimat, wird begleitet von einem klagenden, mahnenden Muezzin-Ruf.

Der Däne Christian Einshøj beschreibt in „The Mountains“ seine eigene tragische Familiengeschichte, die zwei Jahrzehnte nach dem frühen Tod eines unheilbar erkrankten Bruders alle Beteiligten erfasst. Der Vater, ein von Kopenhagen nach Norwegen umgezogener Workaholic, hat massenhaft Filmaufnahmen des kleinen Patienten, von Festen und Naturaufnahmen angesammelt. Doch nach seiner Entlassung bricht die Fassade der heilen Welt zusammen: Leere und eine verzweifelte Sinnsuche innerhalb der auseinanderstrebenden Familie setzen ein. Während einer Reise mit einem jüngeren Bruder versucht der Filmemacher, die Wunden der Vergangenheit, die Brüche und Widersprüche seiner eigenen kleinen Welt in den atemberaubenden arktischen Landschaften zu analysieren. Ein Geduld erfordernder, zugleich auch humorvoller Dokumentarfilm mit selbstkritischer Nachdenklichkeit.

„Mich interessieren die alltäglichen Geheimnisse“, sagt die 35-jährige Katalanin Laura Ferrés über ihr Spielfilmdebüt „La Imatge Permanent („The Permanent Picture“). Und ihre Spurensuche um die aus dem verarmten, ländlichen Andalusien geflohene junge Antonia fasziniert mit außergewöhnlichen Bildern und symbolträchtigen Kameraeinstellungen. Ihre Tochter Carmen lässt jene in dieser männlich dominierten, vom Katholizismus erdrückten Umgebung zurück. Ein halbes Jahrhundert später begegnet die rastlose, sich als Parfümverkäuferin in der nordspanischen Metropole Barcelona durchs Leben schlagende Frau ihrer Tochter wieder, die mittlerweile für eine Werbeagentur arbeitet. Trotz beidseitiger Einsamkeit und Unsicherheit ihrer Gefühle nähern sich die beiden einander unbekannterweise an. Die mit dem FIPRESCI-Preis ausgezeichnete Produktion erzählt auch von einer ökonomischen wie politischen Ungleichzeitigkeit, einer innerspanischen Arbeitsmigration. Über allem schwebt der unbewältigte Bürgerkrieg, die bleierne Zeit vor dem Ende der Franco-Ära.

La Imatge Permanent (© Fasten films/Le Bureau)
La Imatge Permanent (© Fasten films/Le Bureau)


Eine tägliche Ration Blut

Mehrfach prämiert wurde das französisch-belgische Fantasydrama „En attendant la nuit“ von Céline Rouzet. Unterhaltsam, konventionell inszeniert und gespielt, verzichtet es auf inhaltliche wie inszenatorische Überraschungen, erinnert im absurden Humor an Roy Andersson, Aki Kaurismäki oder Alex van Warmerdam. Als sich eine Familie mit zwei Kindern in eine neue, dörfliche Umgebung einfinden muss, reagiert die eingeschworene Nachbarschaft zurückhaltend. Da der 17-jährige Sohn Philemon dringend Blutzufuhr benötigt, zweigt die Mutter (Élodie Bouchez) während der Arbeit im Blutspendezentrum eine tägliche Ration ab. Nachdem jener im Kontakt mit der jungen Nachbarin Camilla seine körperlichen Veränderungen immer schwerer kontrollieren kann, droht das Geheimnis aufzufliegen.

Der Dokumentarfilm Riverboomzeichnet ein ganz eigenständiges Afghanistan-Porträt. Als antimilitaristischer Reisebegleiter zweier Kriegsreporter sieht der Schweizer Claude Baechtold auf einer 2002 unternommenen Tour durch das geschundene Land ein von Geschichtsstunden westlicher Erzählungen stark abweichendes Bild des Landes und seiner Bewohner. Das geschickt montierte Archivmaterial vermittelt dank zahlreicher humoristischer Einlagen nachhaltige Eindrücke von einer weitgehend unbekannten Kultur und Identität. Der Film ist ein Plädoyer für eine befreiende Dimension von Völkerverständigung, bei dem allerdings die Dominanz und der gefährliche Machtanspruch der Taliban-Kämpfer während der sowjetischen Besatzung und des amerikanischen Kriegseintritts zu kurz kommen.

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