Um Kunst und Kultur wird aktuell heftig gestritten, da beide zum Kampfplatz für globale Auseinandersetzungen geworden sind. Für oder gegen etwas zu sein, spaltet ganze Szenen und ruft im Nachhall des Schlagabtausches in den sozialen Medien immer öfter die Politik auf den Plan. Das gefährdet die Freiheit der Kunst. Not täte deshalb die Bereitschaft, Widersprüche auszuhalten und die Debatten als Ringen zu verstehen, mit dem der Eurozentrismus überwunden wird, ohne dessen aufklärerische Maxime über Bord zu werfen.
Der Anspruch, die Kunst möge die Begrenzungen unseres oft limitierten Verstandes mit den Mitteln der Ästhetik und durch nachhaltige Evidenzerlebnisse überwinden, um uns erweiterte Perspektiven und Erkenntnisse über diese Welt zu gewähren, scheint heute mehr denn je naiv zu sein. Andererseits: Die Kunst ebenso wie den Sport und vor allem den Krieg als die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln zu verstehen und als Ausweitung der „Kampfzone“ zu bespielen, wird ihr nicht gerecht. Das gilt im Besonderen für eine Kunstgattung, deren Ausgangs- und Wirkungsmaterial die Wirklichkeit ist.
Welche Möglichkeiten
und Freiheiten hat der Film, um individuelle Blicke auf die Welt zu werfen,
welchen Auflagen und Zwängen unterliegen Filmfestivals bei der Auswahl ihres
Programms? Was wird von der Kunst und Kultur durch die Gesellschaft und der Politik
erwartet? Aufklärung oder Agenda? Evident wird das Dilemma um die Kunstfreiheit
aktuell durch den Krieg in der Ukraine und den Konflikt im Nahen Osten. Auch andere
relevante Themen und gesellschaftliche Aspekte, etwa die umfassende
Dekolonisierung und die vielschichtigen identitätspolitischen Prozesse,
sind Anlass für vehemente Kontroversen über die Meinungs- und Kunstfreiheit.
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Eröffnung & Preisverleihung der Berlinale 2024
Die Ereignisse bei der Eröffnung und der Preisverleihung der diesjährigen Berlinale bieten einen aktuellen Anlass für eine kategorische politische Einordnung. Dabei waren es weniger die Ereignisse selbst als vielmehr die Berichterstattung und die Kommunikation, sowohl über die Presse als auch via Social Media, die hohe Wellen schlugen. Der resolute Protest von Teilen der Filmbranche über die Einladung von Vertreter:innen der AfD zur Eröffnung des Festivals war naheliegend, doch die Art und Weise des offenen Briefes von knapp 500 Filmschaffenden an die Festivalleitung war unsolidarisch und nicht wirklich Teil einer Lösung. Die AfD sitzt in 14 von 16 deutschen Länderparlamenten, im EU-Parlament und im Bundestag und damit nicht nur in Kulturausschüssen, sondern auch im hochsensiblen Ausschuss für Verteidigung. Den öffentlichen Protest gegen ihre Anwesenheit und ihre Ausladung zur Eröffnung der Berlinale 2024 als starkes Signal der Filmkultur zu verstehen, war einigermaßen realitätsfremd. Dabei hat die Filmbranche das Glück, dass sie sich, im Unterschied zur Literatur und zur populären Musik, bisher wenig mit rechtspopulistischen Kräften in den eigenen Reihen beschäftigen muss.
Der Dokumentarfilmpreis der Berlinale 2024 ging an den Film „No Other Land“ des israelischen Filmemachers Yuval Abraham und des palästinensischen Filmemachers Basel Adra. Der Film beschreibt kritisch die Besiedlung des Westjordanlandes durch israelische Siedler und das Vorgehen der israelischen Armee gegenüber den palästinensischen Bewohnern. Obwohl die Festivalleitung in Gestalt von Mariette Rissenbeek zu Beginn der Preisverleihung sowohl die Terrorattacke der Hamas am 7. Oktober 2023 verurteilt als auch zur Mäßigung beim daraus folgenden Krieg im Gazastreifen appelliert hatte, kam es zur Eskalation der Kommunikation auf allen Seiten. Von „pro-palästinensischer“ Seite gab es während der Preisverleihung einseitige und heftige Angriffe auf Israel. Doch erst durch zahlreiche Social-Media-Aktivitäten, deren Verstärkung durch die Presse und die daraus folgenden Reaktionen der Politik kam es im Nachgang zur Einordnung als antisemitischer Vorfall.
Besucher der Preisgala hatten von einseitiger und heftiger Kritik am Vorgehen Israels berichtet, aber keine Überschreitung der in Deutschland beim Thema Antisemitismus zu Recht geltenden roten Linien wahrgenommen. Die politischen Vertreter:innen, die in diesem Fall durch ihre Trägerschaft auch unmittelbar mit der Berlinale in Verbindung stehen, fühlten sich zur Redaktion genötigt. Die Staatsministerin für Kultur und Medien, Claudia Roth (Die Grünen), und der regierende Bürgermeister Berlins, Kai Wegner (CDU), waren im Berlinale-Palast zugegen, kamen aber erst im Nachgang zu ihrer kritischen Einschätzung. Ihre Reaktionen fielen wenig überraschend auch wahlkampftaktisch aus. Das führte binnen zweier Tage zu einer eindeutigen Beurteilung: Die Berlinale habe wie die Documenta ein Antisemitismusproblem. Dabei hinkt der Vergleich sowohl auf der inhaltlichen als auch formalen Ebene und ist insbesondere in Deutschland, unter dem hochsensiblen Aspekt des Antisemitismus, ein schwerwiegender Verdacht.
Was bleibt, sind Fragen an die Mechanismen der Meinungsbildung und die Grenzen der Meinungsfreiheit. Auf der Strecke geblieben ist dabei die Auseinandersetzung mit dem Film „No Other Land“, einem Werk zweier Zeitzeugen, der im Grunde keine politische Agenda vertritt und Ausgangspunkt einer Debatte über Möglichkeiten eines Friedens im Nahen Osten hätte sein können. Stattdessen wurde der Film von allen Seiten für die jeweils eigene, nicht verhandelbare Agenda genutzt. Diese Art der Bevormundung und Entmündigung fußt auf einem wachsenden Verlust der Diskursfähigkeit, gepaart mit vordergründiger Symbolpolitik, wie sie bei vielen Themen, zunehmend aber auch in der Kultur zu beobachten ist.
Universalismus versus Identität
Wir erleben auf unterschiedlichsten Ebenen einen Streit um die Deutungshoheit, nicht nur in der Politik, sondern auch in der Gesellschaft und der Kultur. Mit der gravierenden Folge eines Bekenntniszwangs in bisher ungewohntem Ausmaß. Warum eigentlich? Auch wenn der aufgeklärte Universalismus eher ein idealisierter Fixstern am Horizont der eurozentristischen Ethik sein mag, ist das spätestens seit der Moderne der Anspruch der Kunst. Sie hat sich der Freiheit, der Gleichheit und vor allem der Gleichberechtigung aller Menschen verschrieben.
Die aktuell fortschreitende Einordnung des Universalismus als Versuch einer Manifestation der bestehenden Herrschaftssysteme wird weder dessen historischen Ausgangspunkt noch seiner Geschichte gerecht. Die globale Dekolonisierung und die Aspekte der gesellschaftlichen Identitätspolitik werden vor allem durch die Globalisierung und Digitalisierung forciert und ziehen notgedrungen den Verlust der Deutungshoheit eines eurozentristischen Weltbildes sowie den daraus resultierenden Kontroll- und Machtverlust nach sich. Die Gewissheiten der bisherigen, scheinbar stabilen Weltordnung lösen sich auf und evozieren Identitätskrisen, aber auch Chancen.
Identitätspolitische Debatten sind eine notwendige Gesellschaftskritik. Eine emanzipatorische Identitätspolitik sollte in der globalisierten und digitalisierten Welt aber auch eigene universalistische Ansprüche formulieren. Denn der Wesenskern des Universalismus, die Aufklärung, ist auch Ausgangspunkt der dringend notwendigen identitätspolitischen Bestrebungen und nicht deren Gegenteil. Eine Synthese dieser Ansprüche könnte eine konkrete Perspektive bieten.
Aktuell werden Definitionen der Diversität unter den Aspekten Ethnie, Geschlecht, Klasse und Religion, die die betreffenden gesellschaftlichen Gruppen vor Ausgrenzung und Diskriminierung schützen sollen, zunehmend separiert betrachtet und selektiv argumentiert. Der von allen Seiten oft formulierte Wunsch nach einer kontroversen Debatte, um gemeinsam zu übergeordneten Erkenntnissen zu kommen, bleibt zumeist eine Behauptung. Vorherrschend ist vielmehr die Forderung nach Widerspruchslosigkeit. Was fehlt, ist die Offenheit und Neugierde für komplexere Kontexte und die Lust auf eine gemeinsame Entwicklung neuer gesellschaftlicher Ideale oder Optionen.
Der Begriff der kulturellen Aneignung überlagert viele der langfristigen und unumkehrbaren Transformationen und interkulturellen Überschreibungen. Der Begriff Cancel Culture wird von verschiedenen Seiten strapaziert, je nachdem, ob jemand bei der Veröffentlichung einer Meinung behindert wird oder eine unliebsame Präsenz verhindern möchte. Statt des dringend notwendigen Aufbrechens der zum Teil seit Jahrhunderten gewachsenen Machtstrukturen droht deren Verfestigung, auch in der Kunst und der Kultur. Dabei sind die universalistischen und die identitätspolitischen Bestrebungen eigentlich zwei Seiten ein und derselben Medaille.
Vom medialen Lagerfeuer zum digitalen Stammtisch
Dem Projekt des aufgeklärten Universalismus scheint der Atem auszugehen. Die aktuelle Dynamik resultiert aus zwei sich widerstrebenden Kräften: dem Erstarken der Ansprüche bisher ausgegrenzter gesellschaftlicher Kräfte und dem verschärften Wettbewerb um schwindende Ressourcen jeglicher Art, inklusive in Folge des Klimawandels. Dies führt zu einem Rückfall ins Lagerdenken und zu verstärkter Abgrenzung. Was im Grunde paradox ist, aber anscheinend genügend Anziehungskräfte entfaltet, um für die Behauptung der eigenen Position zu kämpfen und dabei auf jegliche Dialektik zu verzichten.
Bisherige Interpretations- und Meinungsmonopole wie die öffentliche Presse und das lineare Fernsehen verlieren drastisch an Präsenz und Relevanz. Daraus folgt der Verlust weitreichender Kontextualisierung und Differenzierung. Die Reichweite und die Taktung via Social Media sind enorm wirkmächtig, ihre Codierungen sind zugänglicher, der systemimmanente Mechanismus zur Simplifizierung und der zunehmende Zwang zu Bekenntnissen führt oft zur Verlängerung der eigenen Agenda in eine Empörungsspirale. Durch die enorme Dynamik der Globalisierung infolge der Digitalisierung geht es auch in Kunst und Kultur um nichts weniger als um die Neuvermessung und Neuordnung der Welt.
Quoten, Regularien & Ambivalenztoleranz
Lassen sich im Rahmen der in Deutschland verbrieften Meinungs- und Kunstfreiheit Regularien und Auflagen einführen, die die Grenzen der demokratischen Grundwerte justieren können? Abgesehen von grundsätzlich verfassungswidrigen Werken oder Äußerungen erscheint das als eine Herkules- oder Sisyphos-Aufgabe, je nach Lesart. Doch die Rufe nach Vorgaben und Regularien für die Kunst und Kultur werden gerade unter Aspekten der Kulturförderung deutlich lauter. Bei der Besetzung von Gremien ist diese Entwicklung in der Filmbranche unter den Diversitäts- und Genderaspekten schon eine Weile Praxis, wobei gute und nachhaltige Erfahrungen gemacht wurden. Lässt sich dieser Weg auch für andere Frage- und Aufgabenstellungen der Kunst umsetzen? Und: Ist das erstrebenswert?
Konsequent weitergedacht, besteht die Gefahr einer kleinteiligen Matrix und einer Art Wettbewerb der Interessen und Bedürfnisse, der die ohnehin stark divergierenden gesellschaftlichen Kräfte und das Misstrauen untereinander verstärkt. Ein Rückschritt in eine selbstverschuldete Unmündigkeit würde den gesellschaftlichen Zusammenhalt eher schwächen und die Fliehkräfte erhöhen.
Was an allen Ecken und Kanten fehlt, ist eine gesunde Ambivalenztoleranz. Ein heterogenes Weltverständnis ist nach allem, was wir über die Welt wissen, in ein und derselben Person möglich und auch zumutbar. Die umfassende gesellschaftspolitische Debatte, die der Aufgabe, eine Perspektive zu schaffen, zugrunde liegt, sollten wir intensiv und kontrovers führen, anstatt sie den Institutionen und der Bürokratie zu überlassen. Das eine zu tun, heißt ja nicht, dass man das andere lassen muss.
Auch wenn die Geschichte nicht als Blaupause dienen kann und sich nie wiederholt, besitzen die aktuellen gesellschaftlichen Zerwürfnisse und Brüche doch eine gewisse Analogie zu dem, was sich lapidar als die „Achtundsechziger“ in die Geschichte eingeschrieben hat. Nach den bewegten 1960er-Jahren kamen die hedonistischen Siebziger und dann der Beginn des nach wie vor stark wirkenden Neoliberalismus in den 1980er-Jahren. Die „Achtundsechziger“ haben nach intensiver Revolte den Marsch durch die Institutionen angetreten und relevante gesellschaftliche Veränderungen in Bewegung gesetzt, um letztlich dort anzukommen, wo wir jetzt stehen. Bleibt zu hoffen, dass wir wenigstens in dieser Hinsicht etwas aus der Historie gelernt haben.
Ein Spiegel der Conditio humana
Die Vehemenz und die Ausschließlichkeit, mit der die Debatten im Augenblick geführt werden, artikulieren einen umfassenden gesellschaftlichen Machtkampf, der mit Blick auf die weitere gesellschaftliche Entwicklung tatsächlich geführt werden muss. Es wird ohnehin nichts so bleiben, wie es ist. Durch die digital forcierte Globalisierung werden gewachsene Machtstrukturen auch in der Kunst und der Kultur weiter substanziell aufgebrochen. Wir sind schon längst unterwegs, auch wenn das Ziel der Reise offen ist.
Die Künstler:innen sind bei ihren Exkursionen in unbekannte innere und äußere Territorien getrieben von einem individuellen und sensibilisierten Verhältnis zur Welt und zum Menschen. Das gilt insbesondere für die Filmkunst, in der sich dieses Verhältnis auf besondere Weise spiegelt. Ganz gleich in welcher Weise ein dokumentarisches oder fiktionales Werk die Wirklichkeit verdichtet oder überhöht, im Moment der Präsentation auf der Leinwand oder auf dem Screen wirkt ein Film als konkrete Gegenwart. Dabei ist die Agenda der Filmemacher:innen der Humanismus, und ihr Auftrag die Definition der Conditio humana. Ein Malen nach den Zahlen der Politik und einer Agenda wird dabei keine wegweisenden Erkenntnisse hervorbringen.
Daniel Sponsel ist Filmemacher und leitet seit 2009 das DOK.fest München.