Zur Mitte des 77. Cannes-Festivals werden bereits die ersten Palmen-Kandidaten gehandelt, was für einen guten, sogar starken Wettbewerb spricht, aber noch mehr mit zwei herausragenden Filmen zu tun hat: „Emilia Perez“ von Jacques Audiard und „Limonov – The Ballad“ von Kirill Serebrennikow. Allerdings endet das Festival erst am kommenden Samstag, 25. Mai; weitere Überraschungen sind also nicht ausgeschlossen.
Dass Filmkritiker in Cannes aus einer Premiere kommen und davon schwärmen, soeben die „Goldene Palme“ gesehen zu haben, ist eher ungewöhnlich; es könnte sich ja schon der nächste Film als noch überzeugender erweisen. Die Begeisterung nach „Emilia Perez“ des französischen Regisseurs Jacques Audiard war allerdings überschießend. Der mitreißende Film verbindet eine äußerst ungewöhnliche Geschichte mit mehr als einem Dutzend bewegender Songs und einer höchst einfallsreichen filmischen Gestaltung.
Ein mexikanischer Kartell-Boss, gespielt von der transgeschlechtlichen Karla Sofia Gascón, will nicht mehr er selbst sein, sondern eine Frau werden. Schon seit Kindertagen sehnt er sich danach, eine andere zu sein. Eine smarte Rechtsanwältin (Zoe Saldaña) soll ihm dafür den Weg ebnen und nicht nur den besten Mediziner finden, sondern auch alle anderen Voraussetzungen schaffen, damit der Gangster von der Bildfläche verschwinden und als Frau ein anderes Leben führen kann.
Das könnte Sie auch interessieren
- Cannes 2024: Ich auch!
- Cannes 2024 - Das Programm
- Vive le Cinéma! Rückblick auf das Cannes-Festival 2023
Der Plan geht auf, und vier Jahre später kennt nur noch die Juristin das Geheimnis der gewinnenden Emilia Perez. Die elegante Frau hat in Mexiko City eine Organisation ins Leben gerufen, um die anonym verscharrten Opfer der Kartelle zu exhumieren und ihren Angehörigen endlich Klarheit über deren Schicksal zu verschaffen. Die mit dem Geschlechtswandel verbundenen Hoffnungen, nicht nur den von Tattoos übersäten Körper, sondern auch dessen (männliche) Destruktivität hinter sich zu lassen, scheinen aufzugehen. Bis aufs Durchsetzungsvermögen – und unbegrenzte finanzielle Mitteln – ist von dem grausamen Killer nichts mehr übrig. Selbst seine Ehefrau und seine beiden Kinder ahnen nicht, was ihre bislang unbekannte Tante Emilia mit dem für tot erklärten Manitas verbindet.
Dass dieser gewagte Plot auch im Rahmen eines Musicals nicht
ins Märchenhafte abgleitet, hat mit einer sorgfältigen Grundierung der Handlung
im Alltag und dem Verzicht auf durchgängige gesungene Dialoge zu tun. Die von
dem französischen Duo Camille & Clément Ducol geschaffenen Chansons fügen
sich mit perfekt choreografierten Tänzen und raffinierten szenischen
Verschränkungen so nahtlos ins Geschehen, dass selbst ein Duett nicht nach Bühne
klingt. Und auch die vom Mode-Label Saint Laurent kreierten Outfits passen trotz
ihrer großblumigen Opulenz in den dezidiert nicht-künstlichen Rahmen. Die Modefirma
hat den Film wie auch zwei weitere Wettbewerbsbeiträge („The Shrouds“ von David
Cronenberg und „Parthenope“ von Paolo Sorrentino) co-produziert, was nicht nur auf
ein stärkeres Engagement des Labels im Filmgeschäft hinweist, sondern vor allem
visuelle Eleganz verspricht.
Mit roher Direktheit: "Limonov"
Auch der zweite „Palmen“-Anwärter steht „Emilia Perez“ musikalisch nicht nach, obwohl „Limonov – The Ballad“ von Kirill Serebrennikow nichts Musicalhaftes an sich hat, sondern durchgängig dem trotzigen Gestus des Punks huldigt. Mit der rohen Direktheit dieser Musik erzählt der russische Dissident Serebrennikow die Geschichte eines anderen Dissidenten, die des Schriftstellers und späteren Rechtspopulisten Eduard Limonov (1943-2020), der als Exilant in den USA und in Frankreich lebte, nach dem Zerfall der Sowjetunion aber nach Russland zurückkehrte und zu einem Star der nationalistischen Rechten aufstieg.
Der Film basiert auf einer Biografie von Emmanuel Carrère, die Limonovs Werdegang aus kleinkriminellen Anfängen bis in die 2000er-Jahre mit dessen literarisch dokumentierten Ansichten verbindet. Deren Grundton klingt im Titel seines erfolgreichsten Werkes deutlich an: „It’s me, Eddie“ (1976; deutsch als „Fuck off, Amerika“ erschienen) entfaltet eine streng narzisstisch auf sich bezogene Perspektive, die sich an keinen Ort der Welt mit Gegebenheiten abfindet, sondern von Revolution und Veränderung träumt.
In dem britischen Schauspieler Ben Whishaw hat Serebrennikow
einen glänzenden Hauptdarsteller gefunden, dessen hagere Gestalt Limonovs Widersprüche
umso schmerzhafter vermittelt. Mit großer visueller Souveränität und einer erstaunlichen
Fülle an stilistischen Varianten zeichnet der in knapp zehn Kapitel unterteilte
Film dessen Weg aus Charkiw nach Moskau und ins Exil nach New York nach, mit viel
Punk- und Rockmusik im Soundtrack und wechselnden filmischen Formaten und
Materialien, wobei die scheiternde Liebesgeschichte zu dem Model Elena (Viktoria Miroschnitschenko) großen Raum einnimmt. Auch darüber radikalisiert sich Limonovs Unangepasstheit,
die auch aus seiner existenziellen Einsamkeit heraus in immer radikalere
Fantasien umschlägt. Seine schriftstellerische Tätigkeit oder seine
philosophischen und politischen Ansichten werden nur gestreift und bleiben bis
auf ein paar Statements außen vor; allerdings scheint Serebrennikow einen
Zusammenhang zwischen Ohnmacht, Verarmung und einem Kult physischer Stärke anzudeuten.
Wie die literarische Vorlage streift auch der Film die beiden letzten Lebensjahrzehnte von Limonov nur am Rande, was insbesondere seine Rolle innerhalb der extremen russischen Rechten nur andeutet; zusammen mit Serebrennikow 2018 gedrehtem Drama „Leto“ (2018) trägt er aber dazu bei, die kulturellen Entwicklungen in Russland durchsichtiger zu machen.
Der radikalste, weil gar nicht so leicht zu entschlüsselnde Film aus dem diesjährigen Wettbewerb in Cannes stammt jedoch einmal mehr von dem griechischen Regisseur Yorgos Lanthimos, der in „Kinds of Kindness“ mit einer Art Triptychon um seine zentralen Themen Liebe und Unterwerfung, Gehorsam und Kontrolle kreist. Der Clou der drei mittellangen Teile besteht darin, dass die prominenten US-amerikanischen Darsteller Emma Stone, Jesse Plemons, Willem Dafoe und Margaret Qualley in unterschiedlichen Rollen besetzt sind und so nicht nur Glanzstücke ihrer Kunst präsentieren können, sondern auch zu Querverweisen oder Gedankensprüngen zwischen den drei Episoden reizen.
Ein gottgleicher Auftraggeber
Alles dreht sich dabei scheinbar um eine Figur namens RMF, die im ersten Teil zu Tode kommen soll, was aber nicht auf Anhieb gelingt, weil der Todbringer (Jesse Plemons) zu zögerlich das Auto des Unglücksraben rammt. Als ihm sein Chef (Willem Dafoe) eine zweite Chance einräumt, kneift er erneut, da er nicht für den Tod eines anderen verantwortlich sein will. Dieser „Ungehorsam“ hat dann aber zur Folge, dass er in Ungnade fällt und alle Privilegien verliert, worüber ein mysteriöser Deal sichtbar wird, mit dem sein Auftraggeber gottgleich jeden einzelnen seiner Schritte dirigiert, vom Outfit über den Tagesablauf bis hin zum Sex mit der ebenfalls vorab vermittelten Ehefrau.
Auch der zweite und dritte Teil von „Kinds of Kindness“ bewegen sich im Koordinatennetz eines verqueren, aber höchst unterhaltsamen Gedankenspiels über die Abgründe der Liebe. Einmal geht es um Abweichungen von der Vorstellung, wie der andere ist oder zu sein hat, das andere Mal um Loyalität und die Zugehörigkeit zu einer Sekte, die nach dem ewigen Leben sucht. RMF taucht dabei in allen drei Teilen nur am Rande auf, erhält im Abspann aber eine Rolle, die alles Bisherige lustvoll wieder in Frage stellt.
Die höchst unterhaltsame Versuchsanordnung spielt im US-Bundesstaat Louisiana, dessen herrschaftliche Anwesen sich in die Szenerie einschreiben. Träume, Rückblenden und Zeitschleifen arbeiten gegen die Linearität, ohne allerdings David-Lynches Format zu entwickeln. Am Ende glaubt sich die von Emma Stone gespielte Figur am Ziel und bricht in einen exaltierten Tanz aus, hat dabei die Rechnung aber ohne RMF gemacht. Mal sehen, wer am Ende wirklich die Nase vorne hat.