Das Berliner Klick-Kino widmet dem deutschen Kameramann Jörg Jeshel eine Hommage mit 20 Filmen, die an einen der ausdauerndsten Bildermacher der deutschen Filmgeschichte erinnert. Jeshels Kamera glänzte nicht durch spektakuläre Einstellungen oder wilde Schwenks. Sie stellte sich vielmehr ganz in den Dienst des Beobachtens, wovon viele Dokumentaristen, aber auch Regisseure wie Achternbusch oder Jutta Brückner profitiert haben.
Der Kameramann Jörg Jeshel (24.11.1943-4.6.2020) ist in seinem beruflichen Leben weit herumgekommen. Er beobachtete Schamanen in den abgelegenen Tälern des nordwestlichen Himalayas und Bienen in den Schweizer Alpen, der USA und Australien. Er richtete seine Kamera auf tibetanische Mönche in Nepal und auf Menschen, die ihr Gedächtnis verloren haben. Er begleitete die belgische Tanzcompagnie „Les Ballets C de la B“ bei ihrer Vorstellung im kongolesischen Kinshasa und dokumentierte Kochkurse des Zen-Lehrers Edward Espe Brown. Er porträtierte die Nomadin Ulrike Ottinger am Bodensee und die Choreografin Sasha Waltz in Berlin. Er reiste mit der ältesten Jazzband der Welt von Shanghai nach Rotterdam und lieferte Bilder für einen der schönsten Filme über alte Männer.
Jeshel war ein Leben lang in den Zentren der Welt und den
entlegensten Orten der Erde unterwegs, obwohl ihm das nicht in die Wiege gelegt
wurde. Als Jugendlicher half er seiner Mutter, die in Berlin ein Textil- und
Seidengeschäft betrieb, beim Verkauf von Strümpfen und Unterwäsche. Nach einer
Kaufmannslehre landete er in Hamburg, wo er sich freischwamm und seinen eigenen
Weg fand. Er heuerte als Schiffsfotograf auf einem Linienschiff zwischen Bremerhaven
und New York an. Später besuchte er die Staatliche Fachschule für Optik und
Fototechnik in Berlin und fand einen Job als Kamera-Assistent bei Jörg Schmidt-Reitwein.
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Achternbusch und „Der junge Mönch“
1978 dreht er seinen ersten Spielfilm: „Der junge Mönch“ von Herbert Achternbusch, den der FILMDIENST damals so
beschrieb: „Oberbayern nach dem Weltuntergang. Die globale Katastrophe hat nur
Buchendorf verschont, wo Herbert Achternbusch die Trümmer nach eigenen Regeln
zu einer absurden Komödie ordnet. Ein eigenwillig-vertracktes Endspiel, in dem
sich Autobiografie und groteske Fiktion ununterscheidbar mischen.“ Diesen Film
würde man heute gerne (wieder)sehen, aber leider ist er öffentlich nicht mehr
zugänglich.
In Jeshels Filmografie folgte auf Achternbusch und Jutta Brückners autobiografische Beschäftigung mit einer Jugend in einem reaktionären Elternhaus („Hungerjahre“) der Film „Schamanen im Blinden Land“ (1978-1980) von Michael Oppitz. Das ist der Schlüsselfilm im Werk von Jeshel. Sechs Monate drehte er mit der 16mm-Kamera bei den Schamanen im Himalaya, wobei es über 4000 Meter hohe Pässe, durch Flüsse und über schwankende Hängebrücken bis hin zu dem schwarzen Raben auf einem hohen Baum ging, wo in einem Dorf der Schamane Bal Bahadur sitzt und die Weissagungen des Raben deutet. Was sagt der Rabe über unsere Filmarbeit, wollten Regisseur und Kameramann wissen. Eure Arbeit ist gut, krächzte der Rabe. Sie wird im Osten erfolgreich sein. Sie wird auch im Süden Erfolg haben. Später wird sie diesem Dorf nützen, sagt Bal Bahadur.
In langen Takes beobachtete Jeshel die Heilungszeremonien der Schamanen, Exorzismus-Rituale, zeremonielle Tänze, mythische Gesänge und kulturelle Traditionen. Die Kamera durfte dabei nie den richtigen Augenblick verpassen, musste immer den richtigen Moment erwischen. Nichts erklären, sondern visuell beobachten. Aus 35 Stunden Filmmaterial hat der Ethnologe Michael Oppitz, der über keine filmische Erfahrung verfügte, dann einen vierstündigen Film montiert, der zum Klassiker der visuellen Anthropologie wurde. Die Kamera von Jörg Jeshel machte dabei keine virtuosen Alleingänge, sie glänzte nicht durch spektakuläre Einstellungen, ungewöhnliche Kadragen oder wilde Schwenks. Sie macht sich nicht selbständig, interpretiert nicht, liefert keine visuellen Erklärungen für Filmgeschichten; Jeshels Kamera beobachtet in den dokumentarischen Filmen vielmehr, und dokumentiert die Inszenierung des Regisseurs in den Spielfilmen.
Viele haben von Jeshel profitiert
Von der Kameraarbeit dieses besessen-produktiven Kameramanns, der zwischen 1977 und 2017 über hundert Spiel - und Dokumentarfilme und eine Fernsehserie drehte, profitierten viele: etwa Andres Veiel in „Black Box BRD“ über die RAF und die Ermordung des Vorstandssprechers der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen, in dem Jeshel die Arbeit von Putzfrauen in einem Konferenzzentrum durch ein außergewöhnliches Travelling ins Bild rückt; oder Markus Imhoof, für dessen „More Than Honey“ Jeshel unerschrocken den Flug der afrikanischen Killerbienen aufnahm. Und auch die Choreografin Sasha Waltz, die in „Allee der Kosmonauten“ das bizarre Zusammenleben dreier Generationen in einer Berliner Plattenbausiedlung zeigt, getanzt von ihrer Compagnie, wild, ekstatisch, aufgedreht. Die Kamera bleibt ruhig, während vor ihr der Teufel losbricht, bis zum Pas de deux unter Wasser. Oder Volker Heise, der in „Schwarzwaldhaus 1902“ eine Familie in die Vergangenheit „schickt“ und den (Überlebens-)Kampf der Zeitreisenden mit der Kamera dokumentieren ließ. Der Regisseur stand in seinem ersten Film ziemlich verloren zwischen den Kulissen. Noch heute staunt Heise über die Bilder von Jeshel: „Er hat mich und den Film gerettet.“
Für den ungarischen Happening-Pionier Gabor Altornay nahm Jeshel
in „Tscherwonez“ Schwarz-weiß-Bilder im Stile russischer
Stummfilme auf, die die Wege eines sowjetischen Matrosen verfolgen, der – zum
ersten Mal im Westen – sich in Hamburg auf die Suche nach seinem verschollenen
Bruder macht, beobachtet vom KGB, dem deutschen Verfassungsschutz und einem
sensationslüsternen Reporter. Zu Jeshels Arbeiten zählt auch der
unterfinanzierte Debütfilm „Wedding“ von Heiko Schier über die
gescheiterten Lebensträume dreier Jugendfreunde aus dem Wedding in Berlin,
veristisch und schnörkellos in Szene gesetzt. „Beuys“, den Andres
Veiel zum größten Teil aus Archivmaterial und Fotos montierte, ist der letzte
Film von Jörg Jeshel, der Beuys 40 Jahre davor zum ersten Mal begegnet ist. Nach
der Rückkehr aus dem Himalaya kamen Oppitz und Jeshel auf die Idee, Beuys das
35-stündige Rohmaterial zu zeigen, da der Künstler sich in seinem bildnerischen
Werk auch mit der Figur des Schamanen beschäftigte. Beuys sah sich das
stundenlang an und resümierte am Ende: „Diese Schamanen haben alles von mir
geklaut!“
Eine Hommage im Klick-Kino
Die Dominanz der Sujets lässt die Qualität einer Kameraarbeit leicht aus dem Blick verlieren. Diese Hommage an den Kameramann Jörg Jeshel, die das Berliner Klick-Kino ab 24. November ausrichtet, will den Blick auf die Bilder lenken, die den Film erzählen. Der Zuschauer im Kino schaut immer mit dem Auge der Kamera. Die Kamera ist stets dabei. Sie ist bei den Tätern und bei den Opfern. Sie ist drinnen und draußen; oben und unten. Sie ist überall.
Hinweis
Die Hommage an Jörg Jeshel im Klick-Kino in Berlin startet am 24. November und umfasst insgesamt 20 Filme. An einem Freitag im Monat werden je zwei Filme von Jeshel gezeigt, begleitet von Gesprächen mit prominenten Gästen. Am 24. November sind es die Filme „Tscherwonez“ (17.30 Uhr) und „Pankow ’95“ (20 Uhr) von Gábor Altorjay. Um 19 Uhr startet außerdem die Vernissage der Fotoausstellung „Jörg Jeshel bei Dreharbeiten mit Herbert Achternbusch, Marcel Broothaers, Gábor Altorjay, Andres Veiel und vielen anderen“. Weitere Infos finden sich auf der Website des Klick-Kinos in Berlin.