© Claudia Siegel / Tobias Rank

Die Zukunft des Kinos (V): Das Comeback des Wanderkinos

Kracauer-Stipendium „Die Zukunft des Kinos“ - Das Erstarken des mobilen Kinos nach der Corona-Pandemie

Veröffentlicht am
18. Oktober 2023
Diskussion

Mit ihrer agilen Aufführungspraxis begeistern Kino- und Theater-Wanderbühnen ihr Publikum heute mehr denn je. Was lässt sich aus dieser überraschenden Resilienz für innovative Kinoformen und ihre Bedeutung für die Filmkunst lernen? Ein Blick in sechs Teilen, der im Rahmen der Siegfried-Kracauer-Essays in der Vergangenheit des Kinos nach seiner Zukunft fahndet. Der fünfte Teil der Reihe beobachtet das Erstarken der mobilen Kinos nach der Corona-Pandemie, die mit hoher Kreativität und ungewöhnlichen Formen in Kino-freie Räume vorstoßen.


Was ist das Wanderkino heute und was war es in seiner jüngsten Vergangenheit? Zunächst scheint es wie ein großer Mythos, der das zeitgenössische Wanderkino in Deutschland umfängt. Bei den Recherchen zu dieser Reihe waren es auffällig viele ältere Herren, die plötzlich mit leuchtenden Augen und tiefen Tabak-Stimmen begannen, von ihren früheren Kinoabenden als Vorführer in zugigen Scheunen und auf Dorfplätzen, in Uni-Aulas und Volkshochschulen, in verrauchten Kneipen und schummrigen Hinterhöfen zu erzählen. Von Kampf um öffentliche Förderung und institutionelle Anerkennung. Vom Kinosterben um sie herum und der eigenen Hartnäckigkeit, als mobile Einheit zu überleben.

Die Frage nach schriftlichen Quellen verhallte im Zuge begeisterter Anekdoten rund um die Filmaufführung, kleinteiliger Ortsbeschreibungen oder einem schlichten Kopfschütteln. Nein, in ihren Dorfkinos, Ladenkinos, Uni-Kinos, den Kneipen-, Underground- und Hinterhofkinos wurde der Filmprojektor einfach aufgebaut, ohne dass dies großartig in die Annalen der Stadt- und Uni-Archive eingegangen wäre.

Oftmals waren diese noch heimatlos vagabundierenden Kinos Auftakt zur Gründung von Kommunalen Kinos in den 1970er-Jahren, nach langem Kampf insbesondere befördert durch den damaligen Frankfurter Kulturdezernenten Hilmar Hoffmann. Kultur für alle und vor allem: Kino für alle, das war das Ziel. Der Blick zurück lohnte dann auch nicht mehr. Wanderkino schaut nach vorn auf die Leinwand und nicht zurück.

Das klimafreundliche Open-Air-Kino Cinema del Sol in Witten 2023 (© IMAGO / Funke Foto Services)
Das klimafreundliche Open-Air-Kino Cinema del Sol in Witten 2023 (© IMAGO / Funke Foto Services)

Struktureller Wandel durch Wanderkinos

Ebenso verhält es sich mit der Forschung zu ambulanten Formen des Kinos. Auch wenn die Filmwissenschaft versucht, das Wanderkino zu fassen zu bekommen, entzog sich diese wahr- wie wehrhafte Form des Kinos von Beginn an der Kontrolle. Eine Komplettaufzeichnung der Geschichte der Wanderkinos? Ein hoffnungsloser Versuch, wie der Medienwissenschaftler Martin Loiperdinger (2008) auch nach einem quellenergiebigen Kongress zum europäischen Wanderkino einräumte.

Doch es hat dennoch gewaltige und durchaus sichtbare Spuren hinterlassen: Die Theater- und Kinowanderbühnen von gestern waren Motor für die Gründung fester Filmtheater und der Akzeptanz des neuen Mediums Films (siehe Essay Teil 1). Die skandalumwitternden Erfolge ihrer Künstler:innen zogen Millionen von Menschen in Bann (Essay Teil 2) und die Highlights des Wanderbühnen-Films mobilisieren noch heute die Filmgeschichte (Essay Teil 3 und Teil 4). Was also ist das Geheimnis ihrer Überlebens- und Anpassungsfähigkeit im Blick auf das Kino der Zukunft, feiert das Wanderkino doch gerade sein großes Comeback?

Dass Wanderkinos als Teil der sogenannten „Kinosonderformen“ das Arthouse-Kino strukturell verändern können, beweist ein Blick in die Programmkino-Studie, die Frank Völkert auf der Filmkunstmesse 2022 in Leipzig vorstellte. Denn auch wenn der Bestand der knapp 5.000 Leinwände in Deutschland stabil bleibt, so zeigen sich doch Strukturveränderungen: Rund 70 Prozent der Neueröffnungen und über die Hälfte der Wiedereröffnungen entfallen auf Kommunale Kinos, Open-Airs, Uni-Kinos, Vereine und Wanderkinos. 2022 wurden der Filmförderungsanstalt (FFA) allein 49 Wanderkinos gemeldet – eine Erhöhung um mehr als 60 Prozent seit 2014 (Kinoergebnisse-Statistik 2023).

Wenn man bedenkt, dass der Zählung lediglich die Organisationen und Personen zugrunde liegen, die die Filme eigenständig abrechnen und melden, kommen auch noch weitere Kinosonderformen ins Spiel, nämlich temporäre Projektoren und Leinwände in Universitäten, Volkshochschulen, Bürgersälen, Vereinen oder Open-Airs.

Wie auch immer sie sich nennen: Filmkunstkinos jeder Art müssen sich derzeit eine Menge einfallen lassen, denn die FFA-Studie von Völkert attestiert in kleineren Ortschaften signifikante Verluste beim Arthouse-Publikum, insbesondere bei den Älteren und Einkommensschwächeren, die nun öfter ausbleiben. Höchste Zeit also, direkt dahin zu gehen, wo das Publikum offensichtlich Berührungsängste mit dem Kino hat. An Energie und Idee scheint es den heutigen Wanderkinos jedenfalls nicht zu fehlen.

Vollmond und Violin-Begleitung beim Wanderkino von Tobias Rank (© Claudia Siegel / Tobias Rank)
Vollmond und Violin-Begleitung beim Wanderkino von Tobias Rank (© Claudia Siegel / Tobias Rank)

Zu Fuß und aus erster Hand – Der Daumenkinograph

Da ist zum Beispiel der Daumenkinograph Volker Gerling, der die Bilder ganz wortwörtlich zum Laufen bringt: mit einem hölzernen Bauchladen, gebaut aus einem Küchentablett, und bestückt mit selbst fotografierten Daumenkinos begibt sich der Kameramann und Fotokünstler seit 20 Jahren zu Fuß auf Wanderschaft, früher von Berlin aus, heute von seinem neuen Wohnort in Groß Dölln nahe Templin im Norden von Brandenburg. Er lebt von Spenden für seine persönlichen Daumenkino-Vorführungen, aus erster Hand versteht sich.

Aus den Begegnungen auf seiner Walz entstanden weitere Fotoserien und lebendige Porträts, insgesamt 40 Daumenkinos während einer 4.000 Kilometer langen Strecke in 12 Monaten, verteilt zwischen 2003 und 2020, auf den Wegen von Berlin nach Basel, von Berlin nach Köln, von Oldenburg nach Wismar, von Wismar nach Groß Dölln, von Magdeburg nach Wabern, von Wabern nach Wiesbaden und zuletzt von Groß Dölln nach Görlitz.

Auf seinen späteren „Daumenkino-Kinoabenden“ bringt Gerling seine Werke mit Hilfe einer Videokamera auf die Leinwand und erzählt von den Menschen auf dem Land, die sich seine Daumenkinos lieber vorführen ließen, weil sie sich scheuten, sie in die Hände zu nehmen.

Der Kinomacher als Produzent, Vorführer und Erzähler in einer Person: noch direkter und persönlicher kann die kleinste und beweglichste Form von Kino wohl kaum auf das Publikum zugehen. Und wie so oft trifft auch hier das Wanderkino auf das große Theater und potenziert seine kulturelle Reichweite: Gerlings Arbeiten, die oftmals in Dörfern und ländlichen Gebieten entstanden, wurden schon von 120 Bühnen und Festivals auf vier Kontinenten gezeigt und 2015 mit dem „Total Theatre Award“ im Rahmen des Fringe Theaterfestivals Edinburgh honoriert.

Plakat zu den SommerWanderKino in Hessen (© Film- und Kinobüro Hessen)
Plakat zu den SommerWanderKino in Hessen (© Film- und Kinobüro Hessen)

Mobiles Kino gegen Kinoträgheit

Auch einige Bundesländer haben begriffen, dass Menschen, die in Regionen ohne eigenes Kino leben, den Weg zur nächsten Leinwand scheuen, weil er einfach zu weit ist. Weshalb das Kino zu ihnen zurückkommen muss. Das Land Baden-Württemberg fördert das Kinomobil Baden-Württemberg, das seit 1986 in Kooperation mit Städten, Gemeinden und lokalen Kooperationspartnern Filmkultur in derzeit 90 kino-lose Gemeinden bringt. Für Kinder- und Jugend-, Abend- und Open-Air-Veranstaltungen stehen neben wechselnden aktuellen Filmprogrammen Wahlprogramme zu gesellschaftlichen und zielgruppenspezifischen Themen zur Auswahl. Bei Spieltagen mit Defiziten springt die jeweilige Gemeinde mit einem garantierten Mindestumsatz ein. Mit Rätsel-„Lichtspielen“ auf der Homepage und Angeboten aus dem Trickfilm-Netzwerk wendet sich das Kinomobil unter der Leitung von Jörg Eckstein speziell an jüngeres Publikum. Unter dem Motto „Mit dem Kino in die Schule“ fährt das Kinomobil im Rahmen der Schulkinowochen außerdem direkt dorthin, wo man bisher (noch) nicht von selbst gemeinsam ins Kino gegangen ist – auch dies ein Vorteil des Wanderkinos, das auf diese Weise Filmkultur schmackhaft machen will.

Dass das Wanderkino dabei nicht mit den Kinos vor Ort in Konkurrenz gehen muss, zeigt das Film- und Kinobüro Hessen mit seinem SommerWanderKino, das 2023 in kinoSommer hessen umbenannt wurde und zur cineastischen Entdeckungstour in alten Burgruinen, auf historischen Marktplätzen und alten Industrieanlagen einlädt. Es bindet neben Kommunen, lokalen Vereinen und Kulturinstitutionen auch rund 30 hessische Kinos aktiv in die Planung und Durchführung mit ein. Als Teil des Förderprogramms „Ins Freie!“ des hessischen Wissenschaftsministeriums und gefördert von der HessenFilm und Medien GmbH wurden hier 2022 bereits rund 200 kulturell geprägte Kinoabende in 80 kleineren Orten in Hessen veranstaltet. Die Pandemie hat solche Netzwerkprojekte erst möglich gemacht, die nun durch lokale, regionale und landesweite Partnerschaften als dauerhafte Standortförderung etabliert werden sollen.


Kino im Grünen als Green Cinema

Wer sein Publikum erreichen will, muss nicht nur viel fahren und dabei Technik transportieren, sondern auch Aufmerksamkeit erregen, wie es die originellen mobilen Gefährte heutiger Wanderkinos vormachen. Ob als knallrotes Oldtimer-Feuerwehrfahrzeug von 1969, mit komplett integrierter 16mm-Kinotechnik wie beim historisch inszenierten Wanderkino des Musikers Tobias Rank aus Wiesenburg/Mark in Brandenburg, der Stummfilme aller Genres mit Live-Konzerten verbindet. Oder das aus Langeweile in der Pandemie gegründete SubaLi Wanderkino der Brüder Marek und Joshua Biesenthal aus Kassel, die mit ihrem kompakten grünen japanischen Micro Van, einem Subaru Libero, mit Projektor auf dem ausziehbaren Panoramadach für ein Pop-Up-Kino an „wildesten Orten“ sorgen.

Das SubaLi Wanderkino ist ein während der Pandemie gegründetes Pop-Up-Kino (© Joshua & Marek Biesenthal)
Das SubaLi Wanderkino, ein in der Pandemie-Zeit gegründetes Pop-Up-Kino (© Joshua & Marek Biesenthal)

Dass Kino im Grünen in der Tradition historischer Wanderkinos auch „Green Cinema“ im ökologischen Sinne bedeuten kann, beweisen die zahlreichen Fahrradkinos, die in den letzten Jahren gestartet sind. Das 2017 gegründete Cinema del Sol in der Region Hannover setzt komplett auf Solarenergie, die von den Akkus der Fahrradanhänger kommt. Für dieses solare Wanderkino von Volker Stahnke vom Büro für Naturetainment können sich Dörfer und Städte ohne Kino aus der Region jährlich bewerben. Die Förderung durch den Klimaschutzfonds enercity-proKlima und die Sparkasse Hannover ermöglicht in diesem Sommer zwölf Kinovorstellungen.


Kiez-Ladenkino revisited

Doch Wanderkino braucht nicht notwendigerweise die Sonne und den Sommer, sondern kann auch im Winterhalbjahr stattfinden. Das einstige Ladenkino, das während der Wirtschaftskrise in Berlin Anfang des 20. Jahrhunderts besonders erfolgreich war und leerstehende Geschäfte neu füllte, belebt seit zehn Jahren das Kino für Moabit von Neuem. Der Moabiter Filmkultur e.V. mit derzeit 35 Mitgliedern versteht sich als „Kino auf Wanderschaft“, das in der Tradition der frühen Wanderkinos an mehr als 50 Spielorten in Lokalen, Läden, kulturellen und sozialen Einrichtungen in Moabit Filmkunst zeigt und „mit seinem dezentralen Vorgehen auch einen Weg für die Zukunft des Kinos“ weisen will, wie es auf der Homepage zu lesen ist. Der Verein mit den Vorsitzenden Sabine Bader und Susanne Elgeti bringt damit das „Kino um die Ecke“ zurück in den Stadtteil und setzt mit Filmabenden, Kinocafé und Filmgesprächen dem Rückzug ins Private ein attraktives öffentliches Angebot entgegen.

Ob Ein-Personen-Daumenkinograph, umfangreiche Kino- und Kooperations-Netzwerke, aufwändige Kinomobile, umweltbewusste Fahrradkinos, nomadisierende Kiez-Ladenkinos und die vielen weiteren ambulanten Kinos und Open-Airs, die derzeit überall an Sichtbarkeit gewinnen, zeigt, das die Ideenfreude grenzenlos zu sein scheint, wenn es um ein zeitgemäßes Wanderkino geht. Erstaunlich ist, wie oft sich diese höchst innovativen Kinomacher:innen auf das Wanderkino der Frühzeit beziehen und es gleichzeitig ganz neu interpretieren.

Unterwegs im Feuerwehrfahrzeug: Das Wanderkino von Tobias Rank (© Claudia Siegel / Tobias Rank)
Unterwegs im Feuerwehrfahrzeug: Das Wanderkino von Tobias Rank (© Claudia Siegel / Tobias Rank)

Die Schnittmenge all dieser Wanderkinos liegt dort, wo der Zauber der ortsfesten Kinos nachlässt oder durch Schließung ganz erlischt. In Kooperation mit lokalen und öffentlichen Partnern, aber auch den stationären Kinos gelingt es ihnen, was auch für das Kino der Zukunft gelten muss: die proaktive Rückkehr zu dem Teil des Publikums, das verloren gegangen scheint, als begeisternder Weckruf für das gemeinsame Entdecken von Filmkunst direkt vor der Haustür.


Mit Dank an Florian Kaiser von der Wanderbühne Theater Carnivore für die Initiation des Themas.


Vorgestellte Wanderkinos

Cinema del Sol in der Region Hannover

Daumenkinograph Volker Gerling

Kinomobil Baden-Württemberg e.V.

Kino für Moabit

kinoSommer hessen

SuBaLi Wanderkino von Marek und Joshua Biesenthal, Kassel

Wanderkino von Tobias Rank, Wiesenburg/Mark


Literaturhinweise

Martin Loiperdinger (2008): Introduction. In: Loiperdinger, Martin (Hrsg.): Travelling Cinema in Europe. Sources and Perspectives. KINtop Schriften 10, 2008. Stroemfeld Verlag, Frankfurt am Main, S. 9-15.

FFA Filmförderungsanstalt (2023): Kinoergebnisse nach Kinoform – 5 Jahre im Vergleich (unter „Kinoergebnisse“)

Frank Völkert (2022): Arthouse und Kino 2021/2022 – Zahlen, Fakten, Entwicklungen. FFA Filmförderungsanstalt. Präsentation Filmkunstmesse Leipzig 21.9.2022.


Zum Siegfried-Kracauer-Stipendium

Die Essayreihe „Die Zukunft des Kinos“ von Morticia Zschiesche entsteht im Rahmen des Siegfried-Kracauer-Stipendiums, das der Verband der deutschen Filmkritik zusammen mit MFG Filmförderung Baden-Württemberg, der Film- und Medienstiftung NRW und der Mitteldeutschen Medienförderung (MDM) jährlich vergibt. Die einzelnen Beiträge von Morticia Zschiesche und viele andere Texte, die im Rahmen des Siegfried-Kracauer-Stipendiums in früheren Jahren entstanden sind, finden sich hier.

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