© Laia Lluch (Estibaliz Urresola Solaguren)

Endlich tut sich was! - Estibaliz Urresola Solaguren

Ein Gespräch mit der baskischen Regisseurin Estibaliz Urresola Solaguren über ihr Spielfilmdebüt „20.000 Arten von Bienen“ und wie sich während der langjährigen Entstehungszeit des Films das gesellschaftliche Klima in Spanien gewandelt hat

Veröffentlicht am
13. August 2023
Diskussion

Der „Silberne Bär“ für Sofia Otero als beste schauspielerische Leistung bei der Berlinale 2023 hat dem vielschichtigen Familiendrama „20.000 Arten von Bienen“ viel Aufmerksamkeit gebracht. In ihm spiegelt sich der gesellschaftliche Wandel in Spanien, wie ihn die Regisseurin Estibaliz Urresola Solaguren während der langjährigen Entstehungszeit beobachtet hat. Auch sie selbst hat darüber zu einem neuen Verständnis für alte und neue Rollenbilder gefunden.


Was bedeuten Ihnen Bienen und Kinder?

Estibaliz Urresola Solaguren: Sowohl Bienen als auch Kinder helfen uns, in andere, geheimnisvolle Dimensionen einzutreten. Ich habe für den Film viel von den Imkern gelernt. Bei den Bienen mit ihrer komplexen Organisation und Kommunikation untereinander handelt es sich um ein fast übernatürliches System. In vielen Kulturen galten die Bienen als heilige Tiere, etwa im alten Ägypter. Aber auch in der traditionellen Kultur im Baskenland spielen die Bienen eine große Rolle; sie gelten nicht nur als heilige Tiere, sondern sie verbinden uns mit dem Übernatürlichen. Auch die Kinder vermitteln uns einen anderen Blick auf die Welt. Wir entdecken neue Details und gewichten anders. Das gilt im täglichen Leben, aber auch im Film. Kindliche Protagonisten ermöglichen es, die Welt auf eine andere Weise zu verstehen. Wir sehen die Dinge so vielleicht mit weniger Vorurteilen und erweitern unseren Horizont.

Ihr Film erzählt von einem Kind und dessen sexueller Identität, aber auch seiner Familie, die diese Identität nur sehr schwer akzeptieren kann. Aitor soll ein Junge bleiben, auch wenn das Kind sich selbst als Lucia versteht. Wie haben Sie diese Figur entwickelt?

Urresola Solaguren: Ich konnte glücklicherweise sehr viele Interviews führen, besonders mit Eltern, die ihre Söhne oder Töchter auf diesem schweren Weg begleitet haben, mit Familien, die sich klarmachen mussten, dass die geliebte Person nicht mehr die Person war, die sie kannten, die sie erzogen und deren Identität sie mit aufgebaut hatten. Ich habe die meisten Gespräche in meiner Heimatregion, dem Baskenland, geführt. Es ist eine kleine Region, aber es gibt dort eine Selbsthilfe-Organisation von Angehörigen. Ich habe 2018 etwa zwanzig Interviews geführt, bei denen ich mich auf Familien mit sehr kleinen Kindern konzentrierte. Diese Erfahrungsberichte waren für mich wertvolles Material für das Drehbuch. Die vielen Details und Geschichten haben mich auch emotional sehr bewegt. Bei den teils lustigen, teils traurigen, manchmal aber auch gewalttätigen Einzelheiten wurde mir bewusst, wie wichtig die Konstruktion und die Definition der Geschlechter für unsere Gesellschaft ist. Mir ging auf, wie schwer sich die Gesellschaft beim Verständnis neuer Wirklichkeiten tun. Obwohl das Drehbuch schon fast fertig war, führte ich 2020 noch einmal zehn Interviews. Ich wollte sicher sein, dass ich eine aktuelle Geschichte erzähle und nicht überkommene Erzählmodelle reproduzierte, die nur die alten Vorurteile aufwärmen.

Sofia Otero verkörpert dieses Kind in seiner Entwicklung ganz wunderbar. War es von Anfang an klar, dass ein Mädchen diese Rolle spielen würde?

Urresola Solaguren: Für mich ist es ein Mädchen, das am Anfang des Films von seiner Umwelt immer noch als Junge gesehen wird. Aber sie ist ein Mädchen, sie weiß es und sie fühlt sich so. Es war für mich als Regisseurin viel einfacher, diese Rolle mit einem Mädchen zu besetzen, denn so ist es leichter zu erklären: Du bist ein Mädchen, aber jetzt stell dir mal vor, keiner sieht dich als Mädchen, alle behandeln dich wie einen Jungen. Umgekehrt, also einem Jungen zu erklären, dass er im Grunde seines Herzens eigentlich ein Mädchen ist, wäre nicht nur schwieriger gewesen; es erschien mir auch politisch klarer und korrekter, die Rolle von vornherein mit einem Mädchen zu besetzen.

Sofia Otero in "20.000 Arten von Bienen" (DCM/Gariza Films)
Sofia Otero in "20.000 Arten von Bienen" (DCM/Gariza Films)

Die Beziehungen zwischen den Generationen ist in dem Film sehr spannend gezeichnet. Die Mutter sieht sich plötzlich mit Rollenerwartungen konfrontiert, die sie lange verdrängt hatte. Die Großmutter hingegen hält das, was immer richtig war, auch weiterhin für richtig. Während ihre Schwester alles ganz anders sieht. Welche Reaktionen provoziert Aitor beziehungsweise Lucia in der Familie und im Dorf?

Urresola Solaguren: Die Familien, die ich interviewte, erzählten, dass die eigentliche Verwandlung nicht bei Jungen oder Mädchen stattfindet. Was sich veränderte, war die Sehweise und die Wahrnehmung der Anderen. Genau das wollte ich zeigen: Wie das unschuldigste und am wenigsten bedrohliche Wesen in der Familie diese Revolution auslöst, die ihr zu wachsen hilft. Auch dabei hilft, andere scheinbar sichere Positionen im Leben neu zu denken, über die Erziehung und die Entwicklung dieses Mädchens hinaus. Beispielsweise für Ane, die Mutter. Während dieser Reise im Sommer begreift sie so viel über ihre eigene Mutter, den Vater, und wie deren Blick auch ihr eigenes Leben beeinflusst hat. Sie denkt auch über den Zusammenhang von beruflichem und künstlerischem Ehrgeiz und Mutterschaft nach. Ich wollte in diesem Lernprozess auch Frauen unterschiedlicher Generationen zusammenbringen: das Mädchen, die Mutter, die Großmutter und ihre Schwester, die Imkerin. Das sind zwei sehr verschiedene Gesichter dieses Baskenlandes, die beide früher durch das Etikett „Frau“ festgelegt oder unterdrückt wurden. Dieses Kind Aitor/Coco/Lucia, das reklamiert ein Mädchen zu sein, gab mir die Möglichkeit darüber nachzudenken, was Frausein heute bedeutet. Auch die Protagonistinnen im Film hinterfragen, was es bedeutet, Frau zu sein. Und am Ende wird deutlich, dass es die eine Frau nicht gibt. Es gibt tausende Arten von Frauen, so wie es tausende Arten von Bienen auf der Welt gibt.

Der Film spiegelt auch einen Wandel wider, den die spanische Gesellschaft durchlaufen hat. Diese Familie reist aus Bayonne, also aus Frankreich, wo sie offensichtlich nicht so viele Probleme hat, in ein kleines Dorf im spanischen Baskenland. Wie sind die Positionen zu Transgender in Spanien?

Urresola Solaguren: In den letzten fünf Jahren hat sich hier sehr viel verändert. Als ich 2018 mit dieser Geschichte anfing, waren Kenntnis, Toleranz und die Möglichkeit, über diese Wirklichkeit zu reden, fast gleich null. Nur fünf Jahre später wurde das Trans-Gesetz beschlossen. Das ist eine unglaubliche Entwicklung. Es gibt immer noch sehr viel zu tun, aber in diesen letzten fünf Jahren ist es wahnsinnig schnell gegangen, von null auf, sagen wir mindestens sechzig. Die Trans-Bewegung hat aber auch zu einem sehr fundierten Diskurs geführt, der auf eine Neubestimmung der Gesellschaft hinausläuft, was vielleicht der radikalste und strukturierteste Diskurs ist, seitdem das kapitalistische System existiert. Die neuen Generationen wachsen in eine Wirklichkeit hinein, die viel toleranter ist als noch vor wenigen Jahren. Ich weiß nicht, wie die Situation in Deutschland oder in anderen Ländern ist, aber ich glaube, dass sich Spanien darüber zu einer viel demokratischeren Gesellschaft entwickelt hat.

Warum haben Sie ein Dorf als Schauplatz gewählt? Das hat ja eine lange Tradition im spanischen Kino. Würde sich in der Großstadt die Magie der Geschichte verlieren?

Urresola Solaguren: Im Dorf kennt jeder jeden, und jeder kennt dich, und alle projizieren deine Vergangenheit auf dich. Du wirst immer mit dem verglichen, was du warst. Das verhindert jede mögliche Änderung in der Gegenwart. Im Film trifft das besonders auf die Mutter zu: Ane ist nicht oft ins Dorf zurückgekommen. Das beschert ihrer kleinen Tochter sogar eine gewissen Anonymität. Hier entsteht ein interessanter Kontrast, denn während die Mutter sich im Dorf völlig unterdrückt fühlt und keine Luft zum Atmen findet, ist es für das Kind ein Ort völliger Freiheit, an dem zunächst keiner etwas erwartet oder fordert. Ich bin selbst in einem Dorf geboren; meine eigenen Erfahrungen sind da miteingeflossen. Ich wollte aber keine ländliche Idylle zeigen; man sieht zwar viel Natur, aber man sieht auch, dass dieses Dorf von der Industrie geprägt ist. Das Haus steht in der Nähe der Bahngleise, und der Lärm der benachbarten Fabrik ist immer präsent. So spiegelt der Ort auch das Grundthema des Films wider: Die Frage, ob die Identität etwas Natürliches, Angeborenes oder etwas Konstruiertes, Fabriziertes ist. Ich habe allerdings die Orte, die das Kind für sich entdeckt, als idyllische Natur porträtiert. Damit will ich die Trans-Identität in einen größeren Zusammenhang biologischer Diversität stellen, denn die Diversität ist mehr als ein Gesetz der Natur; ohne sie kann die Natur nicht überleben. Ich wollte traditionelle Erzählweisen vermeiden, in denen die Trans-Figuren sich immer in einer grauen Atmosphäre voller Repression bewegen. Stattdessen sollte sich alles in einer helleren Atmosphäre an Orten voller Licht abspielen, die letztendlich auch die Freiheit und das Glück ermöglichen, die ich diesem kleinen Mädchen so sehr wünsche.

Estibaliz Urresola Solaguren bei der "Berlinale" 2023 (imago/Stefan Zeitz)
Estibaliz Urresola Solaguren bei der "Berlinale" 2023 (imago/Stefan Zeitz)

Der spanische Film ist in den letzten Jahren politischer und femininer geworden. Sie gehören neben Alba Sotorra, Carla Simon und Carla Subirana zu einer neuen, erfolgreichen Generation von Regisseurinnen. Wie schätzen Sie die aktuelle Situation spanischer Filmemacherinnen ein?

Urresola Solaguren: Wir erleben zurzeit einen sehr schönen Moment. Junge Frauen produzieren und drehen viel, und unsere Filme kommen beim Publikum an. Aber das ist das Resultat langer Arbeit, besonders von Pionierinnen wie etwa Icíar Bollaín. Die haben sich in einer vollkommen männlichen Filmwelt behaupten müssen. Die Haltung staatlicher Kulturförderung und der Fernsehanstalten hat sich in den letzten Jahren tatsächlich geändert. Sie haben das Problem erkannt, dass zahlreiche Frauen Universitäten oder Filmschulen besuchten, es aber keine Regisseurinnen oder Produzentinnen gab. Das hat sich verändert. Heute bemühen sich staatliche Stellen oder auch die Filmschulen darum, Frauen und Frauenprojekten den Zugang zur Filmindustrie zu erleichtern. So ist ein kreatives Ökosystem entstanden, in dem weibliche Talente wachsen und blühen können. Aber es ist immer noch so, dass Frauen, die ihren ersten Film machen, im Durchschnitt viel älter sind als ihre männlichen Kollegen. Wir sind etwa 37 oder 38 Jahre alt, wenn wir unseren Debütfilm fertig haben. Woher kommt das? Wir müssen anscheinend immer noch viel mehr und über einen viel längeren Zeitraum beweisen, dass wir etwas taugen, bevor man uns ein Projekt anvertraut. Im Moment sieht alles gut aus, aber ich bin sehr gespannt, wie viele von uns in zehn Jahren wirklich auch ihren vierten Film präsentieren werden. Ob für viele Film wirklich zu einem Beruf wird, von dem wir auch leben können.

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