Mit Luis Buñuels „Tagebuch einer
Kammerzofe“ begann 1964 eine der produktivsten Spätphasen eines Regisseurs in
der Geschichte des Films. Wenn unter den bis 1977 entstandenen neun
Meisterwerken eines besonders hervorsticht, dann ist das „Der diskrete Charme
der Bourgeoisie“ (1972). Buñuels drittletzter Film, der zugleich so etwas wie
eine Summe seines Schaffens ist, erscheint jetzt als 4k-Restaurierung in einer "50th Anniversary Edition" neu auf BD, 4k-UHD & digital.
Luis Buñuel habe seine Filme nie analysiert
und könne in vielen Fällen gar nicht sagen, warum er bestimmte Motive – wie die
Wiederholung – in seinen Filmen so häufig einsetze. So erzählt der Anfang 2021
verstorbene Jean-Claude Carrière in einem Interview, das in das
Bonusmaterial der gut ausgestatteten „50th Anniversary Edition“ des Films aufgenommen
wurde. Die meisten Drehbücher der in Frankreich entstandenen Filme hat Buñuel
gemeinsam mit Carrière geschrieben. „Der diskrete Charme der Bourgeoisie“ ist
ein Höhepunkt dieser kreativen Zusammenarbeit.
Von der Wiederholung erzählt Buñuel auch in
seiner 1982 erschienenen Autobiographie „Mein letzter Seufzer“. Er habe sich
davon „angezogen gefühlt“. In „Der diskrete Charme der Bourgeoisie“ treibt er
den Einsatz dieses Stilmittels auf die Spitze. Die Ausgangssituation – eine
Gruppe von Personen kommt zum Essen zu Freunden, scheint sich aber im Termin
vertan zu haben – stammt vom Produzent Serge Silberman, dem dies
selbst widerfahren sei, so erzählte er es jedenfalls Buñuel und Carrière, die
zu dem Zeitpunkt mit ihrer Arbeit am neuen Drehbuch ins Stocken geraten waren.
Denn der Plan eines neuen Films, aus dem dann „Der diskrete Charme der
Bourgeoisie“ hervorging, reifte bereits 1969. Aus Silbermans Erlebnisbericht
wird eine Erzählung entwickelt, in der das repetitive Moment in der
wiederkehrenden Unmöglichkeit besteht, gemeinsam zu speisen.
Das von Jean-Pierre Cassel
und Stéphane Audran gespielte Paar Sénéchal lädt zuerst seine Freunde
Simone und François Thévenot (Delphine Seyrig & Paul Frankeur) sowie Simones Schwester Florence (Bulle Ogier)
und Don Rafael (Fernando Rey), seines Zeichens Botschafter des
(fiktiven) südamerikanischen Landes Miranda, ein. Ist es zuerst noch eine
terminliche Unstimmigkeit, die das Essen verhindert, so werden die Situationen
danach immer surrealer. Kaum sitzen sie an unterschiedlichen Orten zu Tisch,
geschehen seltsame Dinge: in einem Restaurant wird um den gerade verstorbenen
und als Leiche noch präsenten Besitzer im Nebenraum getrauert; in einer
weiteren Episode bei den Sénéchals taucht plötzlich Militär im Manöver auf; das
Esszimmer des Colonels der Truppe, der zum Essen geladen hat, entpuppt sich als
Theaterbühne, und zum Schluss dringen Terroristen mit Schusswaffen in die
Wohnung der Sénéchals ein und metzeln alle nieder. Es ist keine Wiederkehr des
Immergleichen (Umberto Eco), sondern die an der Dramaturgie der Komödie und des
absurden Theaters geschulte Ästhetik der Unterbrechung ritueller Abläufe, die
den Alltag der Menschen und hier vor allem einer bestimmten Klientel, des ach
so zivilisierten und kultivierten Bürgertums, durcheinanderwirbelt.
Surrealistische Traumwelten
Zudem sind es Traumsequenzen, die den Film
durchziehen. Die ausschließlich von den männlichen Figuren ausgehenden Träume
sind zwar als solche markiert. Dennoch fragt man sich zunehmend, was in diesem
Film denn nicht geträumt ist. Die Träume sind nicht arbiträr, sie scheinen im
Unterbewusstsein der Männer verborgen zu liegen und strotzen vor Gewalt und
Schrecken. Unter der Hülle der bourgeoisen Weltgewandtheit treibt die Barbarei
ihr Unwesen. Der Polizeikommissar scheint die „bourgeoise Gang“ für ihre realen
Machenschaften (Drogenhandel) belangen zu können, doch dann träumt er von einem
Kollegen, der blutüberströmt und einem Zombie sehr ähnlich alle wieder
freilässt, und kaum wacht der Kommissar von seinem Albtraum auf, kommt auch
schon der Anruf aus dem Ministerium, die Verhafteten seien wieder auf freien
Fuß zu setzen. So schnell vermögen bei Buñuel Träume die Wirklichkeit zu
transformieren.
Zu diesen Träumen gesellen sich weitere,
die von Nebenfiguren im Film dramaturgisch unmotiviert erzählt werden und
eigentlich auch nichts mit der Haupthandlung zu tun haben. Doch sind es weitere
seelische Untiefen, die zutage treten. Dieses Erzählen von Träumen rührt
vermutlich auch daher, dass Buñuel seine Träume selbst gerne erzählte (wie in
seiner Autobiographie „Mein letzter Seufzer“ nachzulesen ist). Sie sind von
zentraler Bedeutung für sein Leben und filmisches Werk. So widersprüchlich er
von seinem Leben erzählt (mal ist man von ihm begeistert und dann wieder
zutiefst irritiert), so widersprüchlich sind auch die Figuren, in deren
Abgründe Buñuel uns blicken lässt, Abgründe, die auch die seinen sind. Die
Rollen hierfür sind brillant besetzt, vor allem die Schauspielerinnen (Stéphane
Audran, Bulle Ogier, Delphine Seyrig), die im Unterschied zur männlichen
Besetzung die Nouvelle Vague mitgeprägt haben.
Buñuels und Carrières filmische
Erzählkunst, die sich keinem dramaturgischen Regelwerk unterwirft, sowie
Buñuels schnörkelloser und ebenso kinematographischer wie am Theater sich
orientierender Inszenierungsstil entfachen in „Der diskrete Charme der
Bourgeoisie“ ein Feuerwerk ebenso rätselhafter wie bitterbös-komischer
Begebenheiten, die sich zu einer brillanten Gesellschaftssatire verdichten.
Die "50th Anniversary Edition" bei StudioCanal
Diskografischer Hinweis:
Der diskrete Charme der Bourgeoisie.
Frankreich 1972. Regie: Luis Buñuel. Mit Jean-Pierre Cassel, Stéphane Audran,
Delphine Seyrig, Paul Frankeur, Bulle Ogier, Fernando Rey. 101 Min.
Die „50th Anniversary Edition“ auf 4k-UHD & BD erschien bei StudioCanal
in 4k-Restaurierung. In den Bonusmaterialien finden sich unter anderem Szenenanalysen mit
dem Filmkritiker Charles Tesson sowie Interviews mit Charles Tesson und
Jean-Claude Carrière.
Die "50th Anniversary Edition" ist im Buchhandel, bei allen einschlägigen Internethändlern oder hier erhältlich.