Der Sommer 1983 ist lang und heiß in der Lombardei. In der jahrhundertealten Villa saugen die Wandteppiche und edlen Möbel die Sonnenstrahlen auf. Das Licht treibt die Bewohner nach draußen. Dort geht jeder seine eigenen Wege, abgesehen von den Mahlzeiten und an gelegentlichen Regentagen. An einem solchen Tag erweist sich der enge Zusammenhalt der Familie Perlman. Auf dem Sofa finden sie sich zum gemeinsamem Zeitvertreib zusammen, der sich aus dem Übersetzerberuf der Mutter ergibt. Man liest einen Ausschnitt aus den Heptameron-Erzählungen von Margarete von Navarra über die unglückliche Liebe eines Ritters, der mit der Frage ringt, was wohl besser ist: zu reden – oder zu sterben, ohne sich offenbart zu haben?
Die Wahl der Geschichte aus dem 16. Jahrhundert ist zufällig, doch sie bringt das Dilemma des 17-jährigen Elio auf den Punkt: Sein Sommer wird von ebensolchen Gedanken bestimmt, von unbekannten, auch unbegreiflichen Gefühlen an der Schwelle zum Erwachsenwerden. „Call Me by Your Name“ ist zuallererst ein außergewöhnliches Jugendlichen-Porträt. Elios Figur ist frei von den stereotypen Zuschreibungen, die das US-amerikanische Kino wieder und wieder produziert, weder oberflächliche Sportskanone noch jugendlicher Rebell noch Nerd. Seine Beschäftigungen sind zwar an der kunstsinnigen, kosmopolitischen Lebensart seiner Eltern geschult; er spielt Klavier und Gitarre, transkribiert klassische Musik, interessiert sich für Literatur; doch die Erwachsenen lassen ihm alle Freiheiten, sich auch mit Gleichaltrigen zu vergnügen. Der Sohn eines US-amerikanischen Archäologie-Professors und einer Italo-Französin wechselt mühelos zwischen drei Sprachen und hätte wohl keine Probleme, Anschluss zu finden. Doch man sieht, dass er bewusst Abstand zu Mädchen wahrt. Davor, sich gefühlsmäßig treiben zu lassen, schreckt der nachdenkliche Junge instinktiv zurück, was weniger Worte als das ungemein vielschichtige Mienenspiel des Newcomers Timothée Chalamet verdeutlichen.
Als weiteren Unsicherheitsfaktor in Elios Gefühlswelt führt der Film schon zu Beginn den 24-jährigen Doktoranden Oliver ein, belässt dessen Haltung gegenüber Elio aber zunächst in der Schwebe. Oliver ist gebildet und stammt ebenfalls aus einer jüdischen Familie, unterscheidet sich durch eine sportliche Gestalt und sein selbstsicheres Auftreten aber markant von dem noch jugendlich unbeholfenen Elio. Der Sommergast könnte wie ein Kamerad oder großer Bruder für ihn sein, entzieht sich aber zunächst. Gleichwohl kommt es zu ersten gemeinsamen Unternehmungen und einer wachsenden Freundschaft, die Elio schließlich veranlasst, bei einem Fahrradausflug das Gefühl völliger Unerfahrenheit zu gestehen. Auf dem Heimweg führt er Oliver zu seinem geheimen Rückzugsort, noch weit abgeschiedener als die elterliche Villa, wo sich die bis dahin diffusen Schwingungen zwischen ihnen in einem Kuss konkretisieren. Eine Gefühlsäußerung, die zunächst die Distanz der beiden vergrößert, bis Elio es nicht mehr aushält. Eine nächtliche Verabredung mit Oliver lässt ihn begreifen, dass er in ihm die erste Liebe gefunden hat – und dass dieser ihm insgeheim längst signalisiert hat, dass er das gleiche empfindet.
So entspannt und fast beiläufig, wie sich die beiden jungen Männer über ihre Gefühle klarwerden, ist auch der Film angelegt. Auf bestechende Weise fließt hier das Beste von zwei unterschiedlichen Regie-Stilen zusammen. Das Drehbuch nach dem 2007 erschienenen Roman von André Aciman schrieb der fast 90-jährige James Ivory, und auch in der Verfilmung macht sich der Einfluss des Altmeisters in etlichen Details bemerkbar. Der tastend-dezente Blick auf das Geschehen erinnert deutlich an Ivorys Adaptionen seiner literarischen Vorbilder E.M. Forster und Henry James, vor allem an „Zimmer mit Aussicht“ (fd 25 916), „Die Europäer“ (fd 22 681) und „Maurice“ (fd 26 636), ebenso wie der sommerliche Hintergrund und das scheue Staunen der amerikanischen Charaktere über die europäische Kulturfülle.
Der italienische Regisseur Luca Guadagnino fügt dem eine dynamische Inszenierung der Räume hinzu, in der jede Bewegung der Protagonisten ihrer Charakterisierung dient. Er etabliert ein ähnlich dichtes System der Andeutungen und verhüllten Anziehungskräfte wie in seinen früheren Werken „I Am Love“ (fd 40 130) und „A Bigger Splash“ (fd 43 872). Auf wilde oder rohe Elemente, wie sie bei den Männerkonstellationen in diesen Filmen auch auftraten, verzichtet „Call Me by Your Name“ jedoch. Stattdessen entfaltet sich zwischen Elio und Oliver, ermöglicht durch die sanfte Maskulinität ihrer Darsteller Timothée Chalamet und Armie Hammer, ein von Zärtlichkeit geprägtes Verhältnis, das an die großen Romanzen der Kinogeschichte anschließt. Wie im liebevollen Tausch ihrer Namen, auf das der Filmtitel anspielt, scheinen sie auch auf der Bildebene geradezu zu verschmelzen: ein Körper, ein Herz.
Als Geschichte eines Sommers ist dieser Zweisamkeit von Anfang an aber das unausweichliche Ende eingeschrieben. Zunächst ist es die Trägheit der Hitzetage, die den entscheidenden Schritt zur Beziehung hinauszögert. Im zweiten Teil scheint der Film rascher davonzueilen, obwohl sich am Rhythmus nichts ändert. Guadagnino und Ivory sprechen dabei Empfindungen an, die weit über die Erzählung von erwachender Sexualität und einer Liebesgeschichte zwischen Männern innerhalb eines liberal-intellektuellen Milieus hinausreichen. Sie rühren an die Gewissheit, dass Wärme, Genuss und die Freuden des Sommers nur zu bald vorüber sind und zur nicht wiederkehrenden Erfahrung werden. Es ist eine Melancholie, wie sie auch unter der heiteren Oberfläche der Sommerfilme eines Jean Renoir oder Eric Rohmer stets zu spüren war. Dieselbe ebenso anrührende wie unwiderstehliche Stimmung prägt auch diesen meisterhaften Film, von dem man keine Minute missen möchte.