Es ist immer wieder beeindruckend, mit welcher Souveränität und schnörkellosen Klarheit es den Brüdern Jean-Pierre und Luc Dardenne gelingt, das jeweilige Milieu ihrer Filme und die moralischen Konflikte ihrer Figuren in der Exposition zu konturieren. Man erlebt die junge Ärztin Jenny Davin bei der Arbeit. Besonnen und hoch konzentriert widmet sie sich ihren Patienten und unterweist gleichzeitig einen jüngeren Praktikanten, der bei ihr arbeitet. Als ein Junge im Wartezimmer nebenan einen epileptischen Anfall bekommt, handelt Davin routiniert-ruhig, doch der Praktikant ist von der Situation sichtlich überfordert. Der zunächst sachliche Umgangston gleitet ins leicht Gereizte, wenn Davin den Praktikanten ermahnt, sich nicht von einer Krisensituation beeindrucken zu lassen, weil dies den klaren Blick zur Diagnose verstellt. Der Praktikant reagiert maulig.
Dann klingelt es an der Tür, aber Davin öffnet nicht, weil die Praxis schon eineinhalb Stunden geschlossen ist. Und wenn es ein Notfall ist, fragt der Praktikant. Da wäre wohl nachdrücklicher um Einlass gebeten worden, antwortet ausgerechnet diejenige, die neben ihrem Beruf kein Privatleben zu haben scheint. Vor drei Monaten hat Davin als Kassenärztin die Praxis in einem armen Viertel von Seraing in der belgischen Provinz Liège übergangsweise von einem Kollegen übernommen, der aus Alters- und Krankheitsgründen aufhören musste. Ihre Zeit in der Praxis soll eigentlich mit dem Wochenende enden. Im Anschluss lockt eine weitaus prestigeträchtigere Arbeit in einem Gesundheitszentrum, für die Davin unter vielen Mitbewerbern ausgesucht wurde. Dort freut man sich: Es gibt einen kleinen Sektempfang.
Die Praxis, in der sie noch arbeitet, liegt dagegen direkt an einer Schnellstraße, die sich entlang eines Flusses durch ein zersiedeltes Industriegebiet zieht. Tags darauf wird offenbar, dass das Klingeln an der Tür der Praxis vielleicht doch ein Notfall war. Die tote Frau, deren Leiche am Wasser gefunden wurde, hatte um Einlass geklingelt, in Angst und auf der Flucht, wie die Überwachungskamera zeigt. Als Davin das erfährt, bricht sie in Tränen aus. Das junge Mädchen, das auf zunächst noch ungeklärte Weise ums Leben kam, war eine Farbige, vielleicht illegal in Belgien, die als Prostituierte gearbeitet hat. Die Tote führte keine Papiere bei sich. Weil niemand Davin einen Vorwurf macht und weil sich niemand, auch die Polizei nicht, für die Tote interessiert, übernimmt die Ärztin beides selbst.
In der Folgezeit begleitet der Film sie bei Hausbesuchen, registriert ihre Hilfsbereitschaft und auch die Gegenliebe der Patienten. Ein an Krebs erkrankter Junge hat ihr zum Abschied ein Lied komponiert. Davin ist nah bei den Menschen, versteht Zeichen zu lesen, nimmt sich Zeit.
Doch ihr Schuldgefühl, trotz allen Engagements im entscheidenden Augenblick einmal nicht zuverlässig hilfsbereit gewesen zu sein, lässt sie aus der Rolle fallen. Sie kümmert sich um die Tote, besorgt eine Grabstätte, fragt nach dem Termin der Beisetzung, kontaktiert immer wieder die ermittelnden Beamten nach dem Stand der Dinge. Aus der Ärztin wird immer mehr eine intuitiv agierende Ermittlerin, die die Begegnung mit ihren Patienten im Viertel für Fragen nutzt oder durch insistierende Präsenz Reaktionen auslöst.
Ihr geht es um den Namen der Toten, um Schuld, nicht um Strafverfolgung. Immer wieder beruft sie sich auf ihre ärztliche Schweigepflicht, falls denn jemand reden wolle. Schnell finden sich Spuren, Widersprüche, erste Hinweise, doch dem Interesse der Ärztin stehen andere Interessen entgegen, sei es eine illegale Autowerkstatt, Voyeurismus oder der Umstand, dass einsamen älteren Männern ab und zu eine Prostituierte zugeführt wird, sei es die Scham, nicht gehandelt zu haben.
Ausgestattet mit einer guten Portion Naivität, aber auch mit der Kraft verbindlicher, nicht hinterfragbarer moralischer Integrität, folgt die Ärztin den Spuren, auf die sie erstaunlich rasch stößt. Die von Adèle Haenel hinreißend konzentriert und stoisch gespielte Hausärztin verkörpert geradezu den aufrechten Gang. Sie nimmt ihr Gegenüber in den Blick: „Schauen Sie mich nicht an!“, heißt es an entscheidender Stelle; sie ist unbequem, nicht zynisch, weiß zu schweigen, wenn ihr Praktikant die Gründe erläutert, warum er sich für den Beruf des Mediziners nicht geeignet fühlt. Gerade, weil Davin ihre Rolle der Ärztin mit der Rolle der Ermittlerin verknüpft, bricht sie aus der Routine im Umgang mit der Toten aus. Sie aktualisiert die Instanz des Gewissens, der Moral beim Gegenüber, was sich darin zeigt, dass die „Geständnisse“ letztlich freiwillig abgelegt werden, dass die Gespräche gesucht werden.
„Das unbekannte Mädchen“ endet erst dann, wenn die Tote nicht nur einen Namen, sondern ihren richtigen Namen erhalten hat. Vielleicht liegt darin der optimistische Zug im post-sozialen Realismus der Gebrüder Dardenne. An die Stelle der institutionellen Autorität einer Priester-Figur, die früher eine ähnliche Funktion wie Davin hätte gehabt haben können, tritt jetzt die engagierte Ärztin, die ihren Patienten mit Empathie und Verbindlichkeit gegenübertritt. Muss man noch erwähnen, dass Jenny Davin die Stelle im Gesundheitszentrum ausschlägt?