Wenn es hochbegabte Menschen gibt, dann muss es auch das Gegenteil davon geben: „tiefbegabte“ Menschen. So jedenfalls lautet die Logik des etwa zehnjährigen Rico, der sich gerne als „tiefbegabtes Kind“ vorstellt und offen dazu steht, dass ihm manchmal die Gedanken wie Bingo-Kugeln aus dem Kopf fallen. Rechts und links unterscheiden, sich den Weg zum Supermarkt um die Ecke des heimischen Mietshauses in der Dieffenbachstraße 93 in Berlin-Kreuzberg merken, verstehen, wie eine gekochte Nudel auf den Bürgersteig geraten ist – das sind typische Herausforderungen, vor denen Rico Tag für Tag steht. Nachbar Fitzke nennt ihn deshalb einen Schwachkopf, und auch die dreisten Zwillinge aus dem Dachgeschoss hacken mit Vorliebe auf Rico herum.
Dass Rico langsamer als andere denkt, macht ihn freilich nicht zum einfach gestrickten Antihelden, den man besonders wegen seiner Schwächen ins Herz schließt – das wäre für eine Romanfigur des Kinder- und Jugendbuchautors Andreas Steinhöfel einfach zu kurz gegriffen. Wie sein literarisches Vorbild ist Rico alles andere als „doof“, vielmehr ein komplexer Typ, den die selbstbewusste Annahme seiner Defizite stark macht.
Eine vielschichtige Romanvorlage
Der Vielschichtigkeit des literarischen Plots sowie der pointierten Charakter- und Milieustudie auch im Medium Film gerecht zu werden, ohne Steinhöfels originellen Sprachstil außer Acht zu lassen, war keine leichte Aufgabe. Vereinfachungen bis zur Verflachung sind schließlich gängige Fallen, wenn erfolgreiche Kinderbücher zu leicht konsumierbaren Unterhaltungsfilmen für „die ganze Familie“ umgeformt werden; innovative Stoffe und Inszenierungen bleiben dabei häufig auf der Strecke. Nicht aber in diesem Fall: Neele Leana Vollmar ist eine rundum gelungene Mischung aus publikumswirksamer Kriminalkomödie, intelligentem Humor und Gesellschaftskritik jenseits von platten Klischees geglückt. Der Film lässt sich ungewöhnlich viel Zeit, um von Ricos Welt und seiner langsam aufblühenden Freundschaft zum gleichaltrigen, körperlich weit zierlicheren, dafür aber hochbegabten Oskar zu erzählen.
Erst danach schnellt die Spannungskurve in die Höhe, wenn der Kindesentführer „Mister 2000“, der ganz Berlin in helle Aufregung versetzt, erneut zuschlägt. Rico beginnt zu ermitteln und gerät darüber ins Zentrum immer turbulenterer und spannender Ereignisse. Konflikte, die um Familie, Freundschaft und den Umgang mit dem Anderssein kreisen, bekommen dennoch den notwendigen Raum, weshalb die beiden Jungs zu glaubwürdigen Figuren heranreifen.
Mit kleinen Animationen von Peter Schössow, der bereits die „Rico“-Bücher kongenial illustrierte, prägnanten Regieeinfällen, viel Sprachwitz dicht an der Buchvorlage und nicht zuletzt mit einem brillanten Ensemble zeichnet der Film unaufgeregt einen schillernden Mikrokosmos, der das Berlin der kleinen Leute ebenso aufs Korn nimmt wie ihm die Liebe erklärt. Axel Prahl als laut dröhnender Hausverwalter, Milan Peschel als verwahrloster Fiesling Fitzke, David Kross als windschnittiger Yuppie, Ursula Monn als herzliche Lockenwickler-Omi und Ronald Zehrfeld als potenzieller Vaterkandidat stehen stellvertretend für Gesichter der Großstadt, aber auch für die unterschiedlichen Reaktionsweisen von Erwachsenen auf Kinder. Entgegen der Karikierung der Nebenfiguren werden im Gegenzug Stereotypen durch die Protagonisten unterlaufen. Etwa durch Ricos alleinerziehende Mutter (Karoline Herfurth mit herrlich warmer Berliner Schnauze), die sich nachts als Bardame verdingt, ihren Sohn oft allein lässt und ihm gegenüber dennoch liebevoll und aufmerksam ist. Vernachlässigung von Kindern lässt sich eben nicht auf eine soziale Schicht reduzieren.
Keine Frage des IQ
Zudem laufen Rico und Oskar – mehr als überzeugend gespielt von Anton Petzold und Juri Winkler – als sich perfekt ergänzendes komisches Duo allen Pauschalisierungen zuwider. Mal ist die Stärke des einen die Schwäche des anderen, mal ist es umgekehrt. Die Dialoge spielen dabei eine tragende Rolle: Sich ausdrücken und argumentieren lernen, ist keine Frage des IQ, sondern selbstverständlicher Bestandteil von kindlicher Neugier, Entwicklungsdrang und Wehrbarmachung. Überhaupt funktioniert der ganze Film wie ein Kind: Spaß und Fantasie werden großgeschrieben, wobei sich Plot und Inszenierung laufend als klüger und tiefsinniger herausstellen, als man zu denken glaubt.