Ein Film über das älteste Gewerbe der Welt lebt in der Regel nicht vom Neuigkeitswert seines Themas, sondern von seinem voyeuristischen Potenzial. Das gilt selbst noch für eine Elendsstudie wie Michael Glawoggers „Whores’ Glory“
(fd 40 674) und erst recht für Malgoska Szumowskas Drei-Frauen-Stück „Elles“, das von der Warte der französischen Bourgeoise aus über käuflichen Sex und ein damit assoziiertes „besseres Leben“ (so der treffende deutsche Titel) nachdenkt. Dessen „Stoff“, Studentinnen, die ihren aufwändigen Lebensstil mittels Prostitution finanzieren, ist in den letzten Jahren schon mehrfach durch die Boulevardmedien gegeistert.
Doch das kluge Drehbuch verwahrt sich gegen allzu platte Sexismen, indem es geschickt die Perspektiven wechselt. Im Zentrum stehen deshalb weder die jungen Frauen noch ihre Kunden; der Film fokussiert vielmehr auf eine etablierte Journalistin Mitte 40, die für das Pariser Hochglanzmagazin „Elle“ an einer Geschichte über studentische Callgirls schreibt. Nach einer arbeitsreichen Nacht sitzt sie frühmorgens schon wieder am Computer und ringt in der großbürgerlichen Wohnung mit dem Text und ihren Erinnerungen. Der Abgabetermin drängt, doch zugleich muss der Alltag einer vierköpfigen Familie bewältigt werden, und abends haben sich überdies Geschäftsfreunde ihres Mannes zum Essen angesagt.
Annes innere Aufgewühltheit hat aber auch mit der Art der Gesprächen zu tun, die sie mit Lola und der aus Polen stammenden Alicja führte. Nach ihrem langen, intensiven Nachmittag in einem Park umarmt Lola die Journalistin unvermittelt und verrät, dass sie in Wirklichkeit Charlotte heißt, was das beinahe freundschaftliche Vertrauen widerspiegelt, das zwischen den beiden entstanden ist. Der Film „illustriert“ dabei nicht nur Annes Erinnerungsfetzen, sondern setzt Lolas Ausführungen überdies in autonome filmische Erzählungen um, wobei die markant überlappenden Verknüpfungen der Ebenen auf eine irritierende Durchlässigkeit der scheinbar so fremden Sphären hindeutet. Beim Treffen mit Alicja ist von solchen „Korrespondenzen“ zunächst zwar nichts zu spüren. Während die mädchenhafte Lola freimütig über ihr Leben erzählte, verbarrikadiert sich die blonde Polin hinter einer lasziv zur Schau gestellten Überlegenheit. Doch ihr spöttisch-aggressiver Unterton verschwindet, als die Frauen die Minibar plündern und das Gespräch in erotisch-intime Grenzbereiche abdriftet. Vom ehernen Grundsatz des Journalismus, sich nie mit seinem Gegenstand gemein zu machen, ist bei der Reporterin bald nichts mehr zu spüren. Die Geständnisse der jungen Huren, die selbstbestimmt und durchaus lustvoll Sex gegen Geld tauschen, haben Zweifel an ihrem eigenen Leben geweckt; diese rühren an verdrängte Bedürfnisse und Sehnsüchte, die sich unangekündigt Bahn brechen. Auch nachdem der Artikel endlich an die Redaktion abgeschickt ist, hallen einzelne Aussagen und Szenen aus den Interviews durch Annes Kopf, wo sie sich an Gewohnheiten, Ängsten oder dem familiären Status quo brechen; ein Halbsatz wie der, dass primär gelangweilte Ehemänner ihre Dienste nachsuchen, führt dazu, dass Anne den Computer ihres Ehemanns nach Pornos durchsucht – und fündig wird.
Glücklicherweise erliegt die Inszenierung nicht der Versuchung, das emotionale Chaos dieser Bruchstücke in eine thematisch strukturierte Ordnung zu zwingen; die Regisseurin vertraut vielmehr der Kraft assoziativer Bezüge, sorgfältig kadrierter CinemaScope-Bilder sowie ihrer drei außergewöhnlichen Darstellerinnen Juliette Binoche, Anaïs Demoustier und Joanna Kulig, die dieses Konzept durch ihre Präsenz und mimische Nuanciertheit erst ermöglichen. Der Verzicht auf (küchen-)psychologische Grundierung und lineare Narration (inklusive erläuternder Dialoge) eröffnet eine collagenhafte Fülle an Miniaturen, Verweisen und Diskursen, die im Kern um eine Art Dialektik des Begehrens kreisen: Das bessere Leben hat seinen Preis. Nicht nur für junge Frauen wie Lola oder Alicja, die den Fahrstuhl ins materielle Paradies mit einer tiefen Spaltung ihrer Existenz bezahlen, sondern auch und gerade für Anne, deren Magazin zum Symbol alle jener Träume wird, die hinter den Anstrengungen der Prostituierten stehen. Anhand seiner Hauptfigur spielt der Film die Widersprüche der bürgerlichen Welt durch, deren Entfaltung nicht nur auf massiver Ausbeutung, sondern im Kern vor allem auf Triebverzicht ruht. Da der auf Französisch gedrehte Film eine majoritär polnisch-deutsche Co-Produktion ist, mit einer polnischen Regisseurin und einer dänischen Drehbuchautorin, drängen nicht klassenkämpferische Töne ins Zentrum, sondern Gender-Themen oder Fragen nach der Vereinbarkeit von Kindern und Karriere, ohne dass darüber explizit gesprochen würde. Alles Wesentliche ist in die dialogarme (Rahmen-)Handlung eingebunden, die Anne im Finale gleich mehrfach den Aufstand proben lässt – ohne dass die Protagonistin einen Ausweg aus ihren Dilemmata finden würde. Am Ende sitzt sie wieder bei ihrer Familie am Frühstückstisch: müde, ernüchtert, ein erschlagendes Bild fürs Paradies als Fetisch, dem die Studentinnen ihr Leben opfern.