Unten Mitte Kinn

Komödie | Deutschland 2011 | 89 Minuten

Regie: Nicolas Wackerbarth

Eine Schauspielklasse bereitet sich auf die große Abschlussinszenierung vor, die für ihre weitere Karriere entscheidend ist. Probleme mit der Regie sowie Ängste, Neurosen und der allgegenwärtige Druck sorgen für einen chaotisch-disharmonischen Ablauf. Eine mittels Improvisation erarbeitete und dadurch dokumentarisch anmutende Komödie über Selbstdarstellungsstrategien und die Produktionsmechanismen des Egos, die über das Schauspielschulen-Milieu hinaus zur pointierten Studie über Gruppen und ihr Verhältnis zur Macht gerät. - Ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2011
Produktionsfirma
Schramm Film/ZDF (Das Kleine Fernsehspiel)
Regie
Nicolas Wackerbarth
Buch
Nicolas Wackerbarth
Kamera
Bernhard Keller
Schnitt
Janina Herhoffer
Darsteller
Kathleen Morgeneyer (Katharina) · Anne Müller (Nele) · Luise Berndt (Jenny) · Grit Paulussen (Lilly) · Lucie Heinze (Tara)
Länge
89 Minuten
Kinostart
08.12.2011
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Komödie
Externe Links
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Diskussion
Für Außenstehende wirken Schauspielübungen mitunter wie eine Synthese aus Körperbeherrschungstraining, Ego-Schulung und obskurer Psychotherapie. In Nicolas Wackerbarths „Unten Mitte Kinn“ sieht man gleich mehrere dieser grenzüberschreitenden Übungen, bei denen sich für den Zuschauer die Befriedigung seines voyeuristischen Begehrens mit einem eher ungemütlichen Gefühl des Fremdschämens mischt. „Das erzählt mir jetzt gar nichts“, lautet etwa der Kommentar des Bewegungslehrers zu dem leicht verdrucksten Gang einer Schauspielschülerin zu Beginn des Films. Die Kommilitonen stimmen mit ein in die Kritik und schlagen sich auf die Seite der Macht; Katharina, die Studentin, wird systematisch demontiert, bis sie tatsächlich sämtliche Fremdzuschreibungen – gebückt, unsexy, zwei ungleich lange Beine – zu verkörpern scheint und nur mehr wie ein Schatten ihrer selbst durchs Bild huscht. Dass die Arbeit am Körper und die Formung des Egos jedoch nicht außerhalb der Schauspielklasse Halt machen, zeigt Wackerbarths Film ebenfalls. Das Pathos der Theatergesten und das permanente Exponieren des eigenen Selbst infizieren sogar die Alltagssprache und das soziale Gefüge der Klasse, deren psychotische Dynamik mitunter einer aus dem Ruder gelaufenen gruppentherapeutischen Sitzung gleicht. Der Film „spielt“ an einer Kunsthochschule in der deutschen Provinz. Eine Schauspielklasse steht kurz vor der Abschlussinszenierung, dem so genannten Intendantenvorsprechen, das angeblich über ihre Zukunft am Theater entscheiden soll und darüber, wer „drin“ ist im System. Franz Borchert, der Leiter der Schauspielabteilung, ist jedoch schon seit Wochen verschwunden und lässt die Studenten mit Gorkis „Nachtasyl“ hilflos im Schlamassel sitzen. In der Klasse rumort und brodelt es, wobei die Angst vor dem sich anbahnenden Desaster ganz unterschiedliche Triebkräfte freisetzt. Katharina schreibt eine Protest-Mail an den Rektor und ruft idealistisch zum Gruppenaufstand auf, Nele wiederum versucht, sich selbst zu retten, indem sie die erfahrene Schauspielerin Corinna Trampe als Betreuerin für sich gewinnt, andere verfallen in gänzlich unproduktive profilneurotische Ausbrüche oder steigern sich in Panikattacken hinein (nicht etwa das Provinztheater, sondern Hartz-IV gilt als das ultimative Schreckensszenario). Frau Trampe übernimmt schließlich die Regie für die gesamte Klasse, und alles scheint zunächst wieder in geordneten Bahnen zu verlaufen, bis Borchert plötzlich wieder auftaucht, angeblich nur, um „Mäuschen“ zu spielen und Frau Trampe ein bisschen über die Schulter zu schauen. Doch tatsächlich grätscht er ziemlich unfein in den laufenden Probenprozess hinein und reißt seine verloren geglaubte Autorität mit dem selbstherrlichen und aufgeplusterten Gebaren eines absolutistischen Herrschers wieder an sich, um die Klasse dann in seinem launig-totalitären Führungsstil direkt in die Katastrophe der Abschlussvorführung zu stürzen – die gänzlich unerwartete Wendungen nimmt. Nicolas Wackerbarth hat „Unten Mitte Kinn“ gemeinsam mit einem beeindruckend aufspielenden Schauspielensemble komplett improvisiert, was dem Film einerseits den Anschein des Dokumentarischen verleiht und einem „authentizistischen“ Realismus zuspielt, gleichzeitig aber den Produktionsprozess des Improvisierens bzw. des improvisierten Filmens selbstreflexiv vorführt und dabei die ihnen eigenen Bedingungen ausstellt anstatt sie zu verschleiern. Es entstehen Pausen, Peinlichkeiten, kurze und irritierende Augenblicke der Leere, der Verlegenheit und der Ratlosigkeit, doch vor allem herrscht immer die absolute Ungewissheit, in welche Richtung sich dieses „Spiel“ weiter entwickeln könnte. Wackerbarth ist mit diesem in viele Richtung offenen Konzept eine wunderbar neurotische Komödie über die Produktionsmechanismen des Egos gelungen, die weit über das Schauspielschulen-Milieu hinaus zur pointierten Studie über Gruppen und ihr Verhältnis zur Macht gerät. Durch Angst werden Verbindungen aufgekündigt und neue Allianzen eingegangen, Strategien und Intrigen ausgeheckt und Gerüchte gestreut, dabei scheint der Egoismus des Einzelnen kaum weniger fragwürdig als der naive Glaube an den Erfolg der kollektiven Rebellion. „Ich weiß gar nicht, wo ich das jetzt hernehmen soll“, klagt eine Schauspielschülerin in einer Szene über die fehlende Motivation ihrer Rolle. Schließlich ringen die Schauspielschüler auch im „echten“ Leben genau darum: eine wahrhaftige Verbindung herzustellen zu dem, was sie tun.
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