Zwei Ehepaare in Frankfurt/Oder, beide Ende 30, beide ungefähr auf der „halben Treppe“ des Lebens angelangt, also an einem Zeitpunkt, wo man innehält und auf die zurückliegenden Stufen herabblickt, vielleicht auch einmal verschnauft, um sich die nächsten Schritte, die man unternehmen wird, etwas genauer anzusehen. Uwe Kukowski rackert sich rund um die Uhr in seiner Imbissbude ab (die den Namen „Halbe Treppe“ trägt, weil sie auf halber Höhe einer innerstädtischen Betontreppe in einem weißen Kunststoffzelt untergebracht ist), vernachlässigt dabei seine Frau Ellen, die als Parfümfachverkäuferin arbeitet, und die beiden Kinder. In der engen Etagenwohnung in einer ungastlichen Betonsiedlung signalisieren der Wellensittich Hans-Peter, das kleinbürgerliche Wohnzimmerinterieur und der bislang unerfüllte Wunsch nach einer neuen Einbauküche die engen Grenzen des gemeinsamen Daseins. Während Uwe rackert, leidet Ellen zunehmend unter der Lebenssituation, die allenfalls dadurch aufregend wird, dass sich der Wellensittich auf und davon macht. Katrin und Chris Düring sind mit Uwe und Ellen befreundet; man besucht sich ab und zu, sieht gemeinsam Urlaubsfilme bei Knabbereien und Alkohol. Chris arbeitet als Frühmoderator einer Radiostation, die im Oderturm untergebracht ist, weckt seine Zuhörer mit guter Laune, Musik und einem wohl eher improvisierten Horoskop für den Tag. Ebenso früh beginnt für Katrin das Tagwerk bei einer riesigen Spedition, wo sie LKWs abfertigt. Auch hier ein Leben in festen Gleisen, unaufgeregt und still-harmonisch, aber ebenfalls nur scheinbar zufrieden stellend. Irgendwie, ungewollt und ungeplant, funkt es eines Tages zwischen Chris und Ellen: Sie beginnen ein Verhältnis, das zwangsläufig nur kurz geheim bleiben kann. Uwe und Katrin fallen aus allen Wolken – die Routine des Lebens zerbricht für alle Beteiligten.
Ganz „normale“ Menschen auf der Suche nach Geborgenheit und dem kleinen Glück – keine sich betont interessant machenden urbanen Selbstdarsteller mit schicken Berufen und Designer-Outfit, nein, bescheidene, „schlichte“ Durchschnittsmenschen mit unspektakulären Alltagssorgen und -nöten, mit dem üblichen Stress bei der Verwaltung des Lebens und der Arbeit, gezeichnet von abendlicher Erschöpfung und großer Müdigkeit. Immer wieder fragt man sich: Ist das „echt“? Hat Andreas Dresen etwa eine jener Doku-Soaps gedreht, die derzeit das Fernsehen überschwemmen? Spätestens wenn die vier Personen, jede für sich, aus der (Spiel-)Handlung heraustreten und vor laufender Kamera, quasi in einem Interview, dem Regisseur Rede und Antwort stehen, ihre Lebensphilosphie und Gefühle ausbreiten, mühsam um Worte ringend nach Erklärungen suchen – spätestens dann ist man überzeugt, dass man hier tatsächlich ins „wahre Leben“ schaut. Andererseits aber kennt man die auftretenden Personen als professionelle Schauspieler nicht zuletzt auch aus den Filmen Andreas Dresens: Axel Prahl und Gabriela Maria Schmeide etwa in „Die Polizistin“
(fd 34 839), Thorsten Merten in Dresens Debüt „Stilles Land“
(fd 29 841). Hier wird also doch gespielt, aufgeführt und inszeniert – und „Halbe Treppe“ ist demnach keine dokumentarische Studie, dafür aber eine umso eindrucksvollere, ungemein intensive Verdichtung von Lebensumständen und Befindlichkeiten, die gerade dadurch so authentisch und „wahr“ erscheint, dass Dresen ein jederzeit nachvollziehbares Gespür für die Personen und ihre Nöte entwickelt, indem er sich ihnen quasi mit dem Herzen nähert – und dabei nicht nur in ihre Behausungen, sondern auch tief in ihre Seelen blicken lässt.
„Halbe Treppe“ entstand ohne Drehbuch; Tag für Tag wurde am Set der Fortgang der Handlung weiterentwickelt. Gedreht wurde mit einer digitalen (Amateur-)Kamera, was die Bilder einerseits „unsauber“ und hektisch erscheinen lässt, andererseits immer wieder zauberhafte Momente von sprödem Charme und verhaltener Poesie ermöglicht: die atmosphärische Stadt-Silhouette, leere Plätze in der Nacht oder im Schneegestöber, die wie aus der Ferne scheinbar heimlich beobachteten Personen, „eingesperrt“ in ihrem Alltag, kadriert durch ein Fenster in einem Arbeitscontainer, an dem ein großer Seitenspiegel prangt, ohne ein Abbild zu reflektieren. Wie in einem subtilen dialektischen Prozess reibt sich die improvisierte Gestaltungsweise schöpferisch an den „professionellen“ gestalterischen Mitteln, etwa dem Schnitt – wenn sich die Hände der unsicheren, verwirrten Menschen in einer kurzen Nahaufnahme „einmischen“ – oder auch dem Einsatz der Musik, einer verspielt-ironischen, immer ausgelassener und lebensfroher werdenden Melange aus zahllosen Einflüssen, die Dresen mit viel Witz unmittelbar in die Narration einbezieht: Da steht am Anfang ein Musiker mit Dudelsack auf der „halben Treppe“ vor Uwes Imbiss, bis sich am Ende das schrittweise gewachsene Ensemble der Gruppe „17 Hippies“ ins Imbisszelt quetscht, um das Leben mit all seinen Enttäuschungen, Fallen und Fallstricken im symbolträchtigen Miteinander auf engstem Raum musikalisch ausgelassen zu feiern. Das ist im übrigen das eigentliche Wunder des Films: dass er mit feinem Gespür und zugleich respektvoller Zurückhaltung stets die Balance zwischen Alltagsdrama und exquisiter Komödie einhält. Es ist geradezu ein Genuss, den uneitlen Darstellern beim Spielen und Sprechen zuzuschauen resp. zuzuhören und darüber zu staunen, wie es ihnen immer wieder gelingt, die Spannung zwischen intimer Nähe und sanft-ironischer Distanz zu wahren. Man leidet im einen Moment mit Ellen und Uwe, Katrin und Chris, dann wieder schmunzelt man über sie, bevor man sich mit ihnen freut, dass sie am Ende (quasi in einem handfesten Kino-Happy-End) doch noch die Stärke, die Hoffnung und den Lebensmut finden, die zweite „halbe Treppe“ ihres Daseins zu betreten.