Auf Vermittlung der Journalistin Melissa Müller befragten André Heller und Othmar Schmiderer in zahlreichen Sitzungen die Hitler-Sekretärin Traudl Junge. Als junge Frau in den Dienst der Reichskanzlei getreten, zeigte sie sich außerstande, die kriminelle und politische Schreckensmaschinerie zu erkennen, zu deren Rädchen sie geworden war. Nach Kriegsende setzte bei ihr ein langsamer Prozess des Begreifens ein, der in eine tiefe Scham über die eigene Naivität mündete. Die Dokumentaristen haben ihren Film formal aufs Äußerste reduziert: Es gibt keine Musik, keine Archivaufnahmen, erst recht keine nachgestellten Szenen. In dieser kargen Form wird das strenge Ringen Traudl Junges mit ihrem eigenen biografischen Material reproduziert und die damit einher gehende Metamorphose glaubhaft gemacht.
- Sehenswert ab 16.
Im toten Winkel - Hitlers Sekretärin
Dokumentarfilm | Österreich 2002 | 90 Minuten
Regie: André Heller
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Filmdaten
- Originaltitel
- IM TOTEN WINKEL - HITLERS SEKRETÄRIN
- Produktionsland
- Österreich
- Produktionsjahr
- 2002
- Produktionsfirma
- Dor Film
- Regie
- André Heller
- Buch
- André Heller · Othmar Schmiderer
- Kamera
- Othmar Schmiderer
- Schnitt
- Daniel Pöhacker
- Länge
- 90 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 12; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Genre
- Dokumentarfilm
- Externe Links
- IMDb | TMDB
Diskussion
Im Jahr 1942 fährt die gerade einmal 22-jährige Gertraud Humps von München aus in die „Reichshauptstadt Berlin“, um dort bei einem möglichen Arbeitgeber vorzusprechen. Eigentlich will sich die junge Frau mit ihrer neuen Tätigkeit nur materiell absichern, sie beabsichtigt, Tänzerin zu werden wie ihre schon in Berlin lebende, jüngere Schwester. Genau diese Schwester hatte ihr über einen Bekannten namens Albert Bormann die neue Anstellung vermittelt. Dass der Nachname ihres Gönners verdächtig identisch mit dem „Reichsleiter der NSDAP“ Martin Bormann ist und sich ihre potentielle Arbeitsstelle in der von Albert Speer aus dem Boden gestampften Neuen Reichskanzlei befindet, registriert die allgemein „Traudl“ genannte Aspirantin zwar, verbindet damit aber keinerlei Ressentiments. Wie sollte sie auch? Traudl Humps ist eine ganz normale, von den Jugendorganisationen der Nazis geprägte, junge Frau, ausgestattet mit Sehnsüchten und Hoffnungen, wie jede andere ihrer Generationsgenossinen. Ein politisch reflektierendes Denken ist ihr fremd. Als sie tatsächlich ausgewählt wird und in der im Ostpreußischen gelegenen „Wolfsschanze“ ihre Abschlussprüfung besteht, sieht sich plötzlich als persönliche Sekretärin von Adolf Hitler verpflichtet. Gertrud Humps, die später die Hitler-Ordonnanz Hans Hermann Junge heiratet, wird diese Position bis zum bitteren Ende, bis zum endgültigen Zusammenbruch des „Dritten Reiches“ behalten. Nach dem Selbstmord von Adolf Hitler, Eva Braun, Joseph und Magda Goebbels und anderer Insassen des „Führerbunkers“ gelingt es Traudl Jung, aus dem von sowjetischen Truppen eingekreisten Betonlabyrinth zu entkommen und in Berlin unterzutauchen. Wenig später wird sie zwar von Kommissaren der Roten Armee aufgespürt und verhaftet, bleibt aber vom Abtransport nach Sibirien verschont. Dank der Hilfestellung eines armenischen Offiziers gelingt ihr eine nochmalige Flucht, diesmal über die Elbe, in die von den westlichen Alliierten besetzten Zonen. Später lässt sie sich wieder in ihrer Heimatstadt München nieder. Die Tatsache, drei Jahre lang im unmittelbaren Umfeld des Diktators gearbeitet zu haben, lastet bis zu ihrem Lebensende in zunehmenden Maße auf ihr.
Bereits 1947 hatte Traudl Junge ihre damals noch frischen Erinnerungen an die Zeit im innersten Machtzirkel zum Zweck der Veröffentlichung in einer US-amerikanischen Tageszeitung aufgeschrieben. Es kam damals nicht zur Publikation, weil der Verlag das Thema inzwischen als nicht mehr relevant einstufte. Aus Angst vor Instrumentalisierung scheute sich Frau Junge dann jahrzehntelang, mit ihren Lebenserinnerungen an die Öffentlichkeit zu treten. Nicht der schlechteste Umgang mit dem brisanten biografischen Material. Man braucht nur nach Berchtesgaden zu fahren, um die penetrante Ausschlachtung der lokalen Historie in Form von Hochglanzheften wie „Hitler privat“ oder „Die Wahrheit über den Berghof“ zu erleben. Noch die letzten Hofschranzen des Terrorregimes verbreiteten sich in der bundesdeutschen Nachkriegszeit mit distanzlosen Nähkästchen-Berichten und kassierten dafür entsprechend. Auch bei der inzwischen als Journalistin arbeitenden Traudl Junge liefen immer wieder alte und neue NS-Fanatiker auf, nur um einmal jene Hand zu schütteln, die einst des „Führers“ Hand berührt hatte. Sie verweigerte sich konsequent solchen Begehrlichkeiten, emanzipierte sich jenseits jeder sensationslüsternen Öffentlichkeit Schritt für Schritt von ihren Erlebnissen. Erst als sie im Jahr 2000 die in München lebende, aus Wien stammende Journalistin Melissa Müller kennen lernt, erahnt sie die Chance einer angemessenen Perspektive auf ihr Leben. Gemeinsam mit der fast 50 Jahre jüngeren Kollegin sichtete sie die alten Aufzeichnungen, redigierte den Text lediglich in grammatikalischer und orthografischer Hinsicht, beließ ihn ansonsten in seinem Urzustand. Parallel dazu stellte Melissa Müller einen Kontakt zu dem umtriebigen Künstler André Heller her, der mit Othmar Schimderer die Idee des vorliegenden Filmprojektes einbrachte.
Die Filmemacher reduzieren die Form bis aufs Äußerste: keine Musik, kein eingeschnittenes Dokumentarmaterial, erst recht keine nachgestellten Szenen in unseliger Guido-Knopp-Manier. Einzig die aus ihrem Leben erzählende, greise Dame in ihren Privaträumen, aufgenommen in wenigen statischen Einstellungen, zwischen Nah und Halbnah pendelnd. Einmal trägt sie statt des üblichen orangefarbenen einen schwarzen Pullover – das erscheint schon als ungeheure Veränderung. Traudl Junge spricht klar akzentuiert, lauscht konzentriert den eigenen Worten. Dem Zuschauern wird Zeit gelassen, sich mit ihrem Gesicht, mit Gestik und Mimik vertraut zu machen. Der einzige Kunstgriff, den sich das Dokumentaristen-Duo zugesteht, besteht in einigen Sequenzen vertikaler Montage: die Interviewpartnerin sitzt vor einem Bildschirm, auf dem Aufnahmen vorheriger Sitzungen zu sehen sind. Mit der Kamera werden ihre mimisch-gestischen und verbalen Reaktionen auf die eigenen Aussagen registriert. Durch diese ebenso einfache wie wirkungsvolle Bild-im-Bild-Spiegelung wird zum einen das Prozesshafte der Zusammenarbeit zwischen Traudl Junge und ihren Gesprächspartnern verdeutlicht, zum anderen erfährt der grundlegende Ansatz des gesamten Projekts seine visuelle Entsprechung: der unbedingte Wille zur Distanzziehung. Genau hierin besteht der wesentliche Unterschied zu den 1947 vorgenommenen Aufzeichnungen. Die Aussagen sind vom anekdotischen Gehalt her teilweise fast identisch. Dass Hitler keine Schnittblumen mochte, dass er im privaten Rahmen eine ganz warme, fast weiche Stimme hatte, dass sein Verhältnis zur Schäferhündin Blondi ein ganz besonders inniges war, und dergleichen Informationen mehr – das ist ja nicht wirklich interessant. Und die akribischen Schilderungen von den letzten Tagen und Stunden in den Bunkeranlagen unterhalb der Reichskanzlei sind ebenfalls längst bis ins letzte Detail aufgenommen und aufgearbeitet worden; unendlich die Literatur zum Thema. Wer sich auch nur ansatzweise mit dem Gegenstand beschäftigt hat, dem liefert „Im toten Winkel“ inhaltlich kaum neue Erkenntnisse. Aber darum geht es dem Film auch gar nicht. Im Zentrum steht die Passion der Traudl Junge, sich ihren biografischen Tatsachen ausgesetzt zu sehen, ihr Ringen mit dem Schock über ihre eigene Naivität. Wie konnte es ihr geschehen, Adolf Hitler für einen väterlichen Freund und das ihn umgebende Panoptikum für einen lediglich mit liebenswerten Schrullen ausgestatteten Kreis viel beschäftigter Männer zu halten? Einmal notiert sie ihr Bedauern darüber, dass die vom „Führer“ versprochenen Wunderwaffen dann doch nicht mehr zum vollen Einsatz kommen konnten. Dem völlig entgegen gesetzt sind ihre Äußerungen des Jahres 2002. Man nimmt ihr diese Metamorphose ab, gerade wegen ihres niemals eitlen Gebarens und wegen der ausbleibenden Unschuldsbeteuerungen. Heller und Schmiderer reproduzieren in der kargen Form ihrer Dokumentation die strenge Haltung der Protagonistin sich selbst gegenüber. André Heller, der einst als wortreicher Conférencier in Hans Jürgen Sybergergs „Hitler, ein Film aus Deutschland“ (fd 21 051) zu sehen war, hat sich in dieser Eigenproduktion erstaunlich zurückgenommen. Er ist dem Phänomen der Verführbarkeit damit näher denn je gekommen. Bei den Berliner Filmfestspielen stieß der Film auf ein großes Interesse und erhielt den Panorama-Publikumspreis. Traudl Junge verstarb am 11. Februar 2002, am Tag nach der Uraufführung ihres filmischen Porträts.
P.S.: Das Buch „Bis zur letzten Stunde – Hitlers Sekretärin erzählt ihr Leben“ und der Dokumentarfilm „Im toten Winkel – Hitlers Sekretärin“ wurden nahezu zeitgleich veröffentlicht, ergänzen sich dabei auf hervorragende Weise. Steht im Film die Endphase der autobiografischen Befragung im Mittelpunkt, so gewährt das Buch Einblick in das Stadium unmittelbar nach Kriegsende, flankiert von Schilderungen über den weiteren Werdegang von Frau Junge sowie mit einem Personenregister und einem solide recherchierten Fußnotenapparat.
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