Central Station

Road Movie | Brasilien/Frankreich 1997 | 99 Minuten

Regie: Walter Salles

Eine verhärmte ehemalige Lehrerin, die im Hauptbahnhof von Rio de Janeiro Briefe für Analphabeten schreibt, begegnet einem neunjährigen Jungen, der durch den Tod seiner Mutter zum Halbwaisen wird. Zwischen beiden entwickelt sich ein zunächst von Mißtrauen erfülltes, spannungsgeladenes Verhältnis, das sich erst auf der Reise in den Norden des Landes entspannt, wo der Junge seinen Vater zu finden hofft. Ein Roadmovie, das die triste soziale Wirklichkeit Brasiliens angesichts des Neoliberalismus spiegelt und zugleich den Wandel seiner Protagonisten erfahrbar macht, die ihre Gefühlskälte ablegen und Mitmenschlichkeit erfahren. Ein über weite Strecken dokumentarisch anmutender Film, dessen sensible Darstellung einer ungleichen Freundschaft über die teils allzu märchenhafte Konstruktion hinweghilft. (Kinotipp der katholischen Filmkritik) - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
CENTRAL DO BRASIL | CENTRALE DU BRESIL
Produktionsland
Brasilien/Frankreich
Produktionsjahr
1997
Produktionsfirma
Video Filmes/Arthur Cohn Prod./Mact/Rio Filme
Regie
Walter Salles
Buch
Joào Emanuel Carneiro · Marcos Bernstein
Kamera
Walter Carvalho
Musik
Antonio Pinto · Jaques Morelenbaum
Schnitt
Isabelle Rathery · Felipe Lacerda
Darsteller
Fernanda Montenegro (Dora) · Marilia Pera (Irene) · Vinícius de Oliveira (Josué) · Soia Lira (Ana) · Othon Bastos (César)
Länge
99 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Road Movie
Externe Links
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Diskussion
Central do Brasil, der Hauptbahnhof Rio de Janeiros, liegt jenseits der Zuckerhutklischees von Copa Cabana und Samba-Rhythmen. Schnell montierte Einstellungen zeigen eine andere Welt: Hier wird angeboten, verkauft, werden Schutzgelder bezahlt. Hier herrscht nicht der apokalyptische Kampf ums Überleben, keine düstere Hollywood-Fantasie über den Untergang der Zivilisation, sondern die schnöde Alltäglichkeit eines schmuddeligen Neoliberalismus. Hier wird der Taschendieb vom Wachmann verfolgt und zwischen den Gleisen erschossen, ohne daß sich jemand darum kümmern würde. Züge kommen und gehen, Tausende steigen ein und aus, Schicksale laufen zusammen und verlieren sich wieder. Mittendrin sitzt Dora, eine ehemalige Lehrerin, die sich ihren Lebensunterhalt verdient, indem sie Briefe für die zahllosen Analphabeten schreibt. Dabei steht sie den Sehnsüchten, Tragödien und frohen Botschaften ihrer Klienten skeptisch gegenüber. Sie verachtet die Unfähigkeit, sich nicht aus den immer gleichen Geschichten von Liebe und Haß befreien zu können, ohne sich freilich über ihre eigene Zukunft und Vergangenheit irgendwelchen Illusionen hinzugeben. Am Feierabend ordnet sie die Briefe in die Schublade oder wirft sie gleich in den Papierkorb – abgeschickt werden die Botschaften nie.

Eines Tages steht der neunjährige Josué mit seiner Mutter vor ihr. Ein Brief an den Vater im Norden des Landes, den der Junge nie gesehen hat, soll geschrieben werden. Josué ist mißtrauisch, spürt, daß Dora die Briefe nie abschicken wird. Die Abneigung zwischen beiden ist offensichtlich. Am nächsten Tag wird Josués Mutter von einem Bus überfahren. Dora nimmt den Jungen gegen besseres Wissen mit nach Hause. In der Haßliebe zwischen der alternden Frau und dem trotzigen Knaben verbindet sich das Groteske mit dem Realen, das Komische mit dem Tragischen. Sentimentale Momente werden immer wieder durch wüste Streitszenen und giftige Dialoge gebrochen. Dora läßt Josué für mehrere Dollar bei einer vermeintlichen Adoptionsfirma und kauft sich von dem Geld einen Fernseher. Froh wird sie daran allerdings nicht, denn auch sie weiß, daß die Kinder nicht von reichen Familien im Ausland adoptiert werden, sondern für den Handel mit Organen oder für Kinderprostitution bestimmt sind. Als sie den widerspenstigen Josué aus der Wohnung befreit, hat sie damit auch ihre Brücken in Rio abgebrochen, steht sie doch selbst von nun an im Visier der Mafia. Die beiden nehmen den Autobus in Richtung Norden in die unwirtlichen Landschaften des Sertão und kommen sich allmählich näher. Dabei findet Dora immer mehr zu ihrer eigenen Identität; der Schutzpanzer, den sie um sich gezogen hat, weicht langsam auf. Das leichte Happy End bietet sich an, als sie den LKW-Fahrer César kennenlernen. Doch ähnlich wie bei Fellinis „Die Nächte der Cabiria“ (fd 6 276) werden Doras Gefühle enttäuscht, wenn sie sich zu ihnen bekennt. Als sie sich für den Griff zum Glück entscheidet und etwas Lippenstift auflegt, verschwindet der LKW-Fahrer fluchtartig.

In „Central Station“ wird die Anklage sozialer Verhältnisse nie zum Selbstzweck. Wie schon in seinem vorherigen Film „Terra Estrangeira“ versteht es Walter Salles fast beiläufig, die soziale Realität als kritisch-skurrilen Grundton beizubehalten. Er beschreibt eine Reise durch ein zerrissenes Land – vom reichen Süden in den Norden, von der kollektiven Geldgier in die religiöse Ekstase. Hinter den Massen von Heiligenbildern stehen die gleiche Hilflosigkeit, die ähnliche Sehnsucht, der Mangel an Menschlichkeit. Die Szenen des religiösen Massenbetriebs im Wallfahrtsort Bom Jesus gehören zu den eindringlichsten des Films. Hier wäre der geeignete Moment gewesen, einen Schlußpunkt zu setzen, denn das letzte Happy End, die Familienzusammenführung, die am Ende zur Trennung der beiden Protagonisten führt, ist doch zu konstruiert, auf hölzerne Weise märchenhaft – Sundance-Kommerz am Rande des Kitsches, was der Film nicht verdient hat. An dieser Stelle wirkt auch die sehr redundante Musik penetrant, die an vielen Stellen fast gegen den Film arbeitet. Was klar und einleuchtend wirkt, wird durch die Musik durchgängig unterstrichen. Allein die letzte Einstellung ist eine wunderschöne Visualisierung der Hoffnung: Dora fährt mit dem Bus wieder zurück, weil sie sich selbst gefunden hat. Trotzdem ist „Central Station“ eine mitreißende Geschichte, Gefühlskino zwischen Situationskomik und Spannung, die sensible Darstellung einer ungleichen Freundschaft. Ein Road Movie, das über die Topografie des Landes, über die Träume und Sehnsüchte der Protagonisten ein vielschichtiges, sozialkritisches Bild des modernen Brasiliens entstehen läßt. Scheinbar Beiläufiges, Details und Nebenfiguren sind liebevoll ausgearbeitet und entsprechen der lebendigen, stellenweise fast dokumentarischen Kameraführung. „Central Station“ erweist sich zugleich als erfrischend neue Version der alten, schönen Geschichte davon, daß nur Energie und Menschlichkeit verkrustete Strukturen und Seelenpanzer aufbrechen und die Situation verändern können.
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