Peter Weir hat „Die Truman Show“ in einem Interview mit dem Pink-Floyd-Song „Wish You Were Here“ verglichen: „So you think you can tell heaven from hell, blue skies from pain...“ Unsere Welt ist voll von Situationen, in denen sich Himmel und Hölle, Freude und Schmerz nicht mehr unterscheiden lassen. Die Geschichte vom Versicherungsagenten Truman Burbank, dessen Leben unbewußt für eine live übertragene Fernsehshow herhalten muß, ist auch unsere Geschichte – die Geschichte vom Konsumenten, dessen privates Dasein unbewußt der Manipulation durch die Medien hörig ist. Jeder von uns könnte Truman Burbank sein, und Peter Weir gestattet uns, als Voyeure einem voyeuristischen Vergnügen anderer beizuwohnen: Wir schauen den Zuschauern beim Betrachten einer kalkulierten Exhibitionistennummer zu. Eine absurde Situation, aber kaum viel absurder als das Leben selbst. Das Wunder der „Truman Show“ – soviel sei gleich vorweggenommen – besteht darin, daß aus dem Voyeurismus allmählich Mitgefühl wird, sowohl auf der Leinwand als auch vor ihr.Auf den ersten Blick scheint „Die Truman Show“ kaum ins Schaffen des heute 54jährigen Regisseurs zu passen, weder zu den mystischen Erlebnissen von „Picknick am Valentinstag“
(fd 20 381) und „Die letzte Flut“
(fd 20 916) noch zu der verfremdeten Actionstory „Der einzige Zeuge“
(fd 25 072) oder der spirituellen Herausforderung von „Fearless – Jenseits der Angst“ (fd 30 0664). Doch Weir hat sein Publikum stets düpiert mit der Wahl seiner Stoffe. Man muß hinter deren Oberfläche sehen, um den einigenden Gedanken zu finden. Sie alle nämlich sind Entwürfe alternativer Realitäten. Der Welt, wie wir sie kennen, setzt er eine Welt der Träume, Imaginationen und Obsessionen gegenüber, die seine Helden meist unwillentlich oder intuitiv erfahren und die sie gegen die Realität und gegen die Ungläubigkeit der anderen verteidigen müssen. Weirs Filme sind Entdeckungsreisen in die Seele, deren leisen Widerspruch gegen die sogenannte Rationalität er wahrnehmbar macht – in der Figur des vom einfachen Leben der Amish bewegten Polizeioffiziers in „Der einzige Zeuge“ ebenso wie in dem unorthodoxen Lehrer von „Der Club der toten Dichter“
(fd 28 082).In „Die Truman Show“ wird das Thema der alternativen Realitäten auf die satirische Situation zugespitzt, daß dem Helden keine Wahl bleibt, weil sein Lebensraum von gottgleichen Manipulatoren für die Bedürfnisse des Medienzeitalters maßgeschneidert wurde. Umstellt von Verwandten, Freunden und Kollegen, die in Wahrheit Schauspieler sind, unwissentlich eingesperrt in ein überdimensionales Fernsehstudio und Tag und Nacht von 4000 Kameras umlauert, ist Truman Burbank jeder Alternative beraubt. Doch was auch der allmächtige Produzent dieser 24 Stunden täglich ausgestrahlten Live-Show nicht zu verhindern vermag, ist die Tatsache, daß Truman Burbank denken und fühlen kann – menschliche Eigenschaften, denen auf Dauer keine noch so perfekt organisierte Scheinrealität widersteht, auch wenn es bereits mehr als 10.000 Tage gutgegangen ist. Trumans Heimatort Seahaven ist das perfekte Disneyland: gedrechselte Einfamilienhäuser ohne Spur von Individualität; die Straßenzüge, Parks und Geschäfte tragen die Farben von Limonade und Zuckerwatte; Sonnenuntergänge und Naturereignisse sind von digitaler Präzision und Zuverlässigkeit. Und hoch oben im artifiziellen Mond sitzt Christof, der allgewaltige Produzent der monströsen Peep Show, vor Wänden voller Monitore und spielt Gott. Obwohl sich Christof gleich zu Beginn des Films ans Publikum wendet, muß sich der Kinobesucher doch zunächst ebenso in Trumans Welt zurechtfinden wie dieser selbst. Die Illusion ist mit Fragezeichen versehen, aber keinesfalls von Anfang an desillusioniert. Das spart sich Weir für später auf. Genauso wie Jim Carrey zunächst wenigstens noch ein bißchen an „Ace Ventura“
(fd 30 804) erinnern darf, obwohl ihm die unvermutete Nachdenklichkeit auch zu Beginn schon irritierend im Gesicht geschrieben steht. Nach und nach erfährt man, was die Fans der Live-Show längst alles wissen: die traurige Episode vom Tod des Vaters und die Geschichte von Trumans hausbackenem Eheleben zum Beispiel. Spätestens von der Mitte des Films an aber sind die Kinozuschauer den weltweit faszinierten Truman-Anhängern einen Schritt voraus: Sie verstehen die traurigen Blicke und Gesten vor dem Badezimmerspiegel zu deuten; sie ahnen, daß Truman nicht nur aus einer Laune heraus Modemagazine zerschnipselt und allmählich das Bild seiner Traumfrau entstehen läßt.Trotz des brillanten Einfalls, der hinter der „Truman Show“ steht, könnte das ein ziemlich eintöniger Film sein, hätte sich Weir nicht ein wahres Feuerwerk an doppelbödigen Bildkompositionen einfallen lassen. Fast hat er Story und Dialog gar nicht nötig, um den Blick auf immer neue Aspekte der scheinbar absurden Konstellation zu lenken. Konformismus, Kommerzialisierung, die Anmaßung, Gott zu spielen – alles manifestiert sich optisch, bevor es in der Handlung überhaupt eine Rolle zu spielen beginnt. Und Jim Carrey transponiert diesen gleichermaßen satirischen wie nachdenklichen Stil in die Figur des Truman Burbank. Carrey hat diesen Kraftakt zu beschreiben versucht: „Der Film besitzt etwas von einem Dalì-Gemälde, so wie ich immer schon zu zeigen versucht habe, was sich unter der Oberfläche abspielt und was ich tue, um akzeptiert und geliebt zu werden; aber hier mußten wir den ganzen Ozean trockenlegen, um den schlafenden Hund zu sehen.“ Weir hat einen ganz neuen Stil entwickelt, neu nicht in dem Sinn, daß es ähnliches nie zuvor gegeben hätte, sondern neu in der Applikation auf einen Hollywood-Film. Viele seiner Filme haben die Studio-Produzenten hinters Licht geführt: „Der einzige Zeuge“ war kein Polizeikrimi, „The Mosquito Coast“
(fd 26 027) kein Dschungelabenteuer, „Der Club der toten Dichter“ keine Teenagerstory und „Fearless“ kein Katastrophenfilm. So ist auch „Die Truman Show“ keine Komödie und erst recht kein Jim-Carrey-Film im landläufigen Sinn, sondern eher eine hintergründige Sammlung von Einfällen, die auch Ionesco oder Beckett hätten Ehre machen können. Was so spielerisch beginnt, trägt am Ende nachgerade tragische Züge. Und wieder findet Weir dafür einfache, bestürzende Bilder: Truman, der im Unwetter an das Ende seines Universums gerät, steht vor einer getünchten Wand, die eben noch Himmel war, die keinen Trost und keine Sicherheit mehr zuläßt. In Trumans Kopf existiert längst die alternative Welt, aber diese weiße Wand verweigert sie ihm ebenso, wie es all die Regieanweisungen getan haben, mit denen seine Umgebung 30 Jahre lang zwangsarrangiert wurde. Hinter der Wand liegt das Unbekannte, das Unbewährte und Ungesicherte. Hinter der Wand liegt aber auch die Hoffnung auf Erlösung. Es ist die uralte existentielle Frage, vor der Truman steht. „So you think you can tell heaven from hell, blue skies from pain...“