Eine 31jährige Bibliotheksangestellte heiratet einen distinguierten Geschäftsmann, der sich als herrschsüchtig und sadistisch herausstellt und die innerlich ungefestigte Frau für seine Bedürfnisse "formt". In ihrer halb durchlittenen, halb akzeptierten Isolation von der Außenwelt gerät sie schließlich in Panik, erleidet einen Unfall und bleibt fortan gelähmt. Eine äußerst intensive, bizarre und beklemmende Studie über Macht und Unterdrückung sowie die damit verbundenen Mechanismen und Rituale als Elemente bürgerlichen Lebens. Ebenso lustvoll wie unterkühlt entwickelt Fassbinder mit formaler Virtuosität und hervorragenden Darstellern seine Versuchsanordnung, mit der er zugleich die ganze Spannbreite des Melodrams auslotet. (Der ursprünglich fürs Fernsehen auf 16mm produzierte Film wurde für den Kinoeinsatz umkopiert und restauriert.)
- Sehenswert ab 16.
Martha (1973)
Melodram | BR Deutschland 1973 | 116 Minuten
Regie: Rainer Werner Fassbinder
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Filmdaten
- Produktionsland
- BR Deutschland
- Produktionsjahr
- 1973
- Produktionsfirma
- WDR/pro-ject im Filmverlag der Autoren/Rainer Werner Fassbinder Foundation (Rekonstruktion 1993)
- Regie
- Rainer Werner Fassbinder
- Buch
- Rainer Werner Fassbinder
- Kamera
- Michael Ballhaus
- Musik
- Archivmaterial
- Schnitt
- Liesgret Schmitt-Klink
- Darsteller
- Margit Carstensen (Martha Hyer/Salomon) · Karlheinz Böhm (Helmut Salomon) · Gisela Fackeldey (Marthas Mutter) · Adrian Hoven (Marthas Vater) · Barbara Valentin (Marianne)
- Länge
- 116 Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 12; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Sehenswert ab 16.
- Genre
- Melodram | Literaturverfilmung
- Externe Links
- IMDb | TMDB | JustWatch
Heimkino
Diskussion
1973 muß der 28jährige Rainer Werner Fassbinder die Dreharbeiten zu "Effi Briest" (fd 18 889) unterbrechen, weil einer der Hauptdarsteller erkrankt. Er nutzt die Drehpause zur Inszenierung eines Fernsehfilms, der ebenfalls von einer Ehe und ihrem Scheitern erzählt - dies jedoch auf ganz andere, weitaus bizarrere Art und Weise, so daß man letztlich nicht weiß, ob man vom Scheitern oder von einer äußerst makabren Form der tiefsten Erfüllung dieser Ehe sprechen soll. "Martha" schlummerte mehr als zwei Jahrzehnte in den Regalen; der auf 16mm-Umkehrmaterial gedrehte Film hatte als Fernsehproduktion nur bedingt die Aufmerksamkeit und Anerkennung gefunden, die er damals wie heute verdient. Jetzt, in der 35mm-Kinoversion, vor allem auch in der aufgefrischten, dramaturgisch wichtigen Farbgestaltung (rekonstruiert von Kameramann Michael Ballhaus), offenbart sich der Film als alles andere als ein unbedeutenderes Nebenwerk im immensen Schaffen Fassbinders: vielmehr verdichtet er die triviale Erzählung (eher inspiriert als nachweislich adaptiert von einer Kurzgeschichte des Thriller-Spezialisten Cornell Woolrich) zu einer virtuosen, ungeheuer intensiven Studie über Macht und Unterdrückung sowie über deren Mechanismen und Rituale. Zugleich ist "Martha" eine eindrucksvolle Studie über die (Erzähl-)Form des Melodrams, das Fassbinder in seiner ganzen Bandbreite vom grell-überzeichneten Pathos über die schrill-parodistische Farce bis zum beklemmend-düsteren Seelenabgrund auffächert. Nicht von ungefähr läßt er seine Hauptfigur in der "Detlef-Sierck-Straße" wohnen, um an den in Hollywood (als Douglas Sirk) zum Melodram-Spezialisten avancierten Regisseur zu erinnern. Dabei reproduziert Fassbinder aber nie dessen Technik, will nie (nur) emotionalisieren oder gar Mitleid für das Schicksal der Figuren wecken; vielmehr geht es ihm um Versuchsanordnungen: einerseits distanziert und unterkühlt sezierend, andererseits lustvoll stilisierend bis zum genau kalkulierten Manierismus.Alles dreht sich (manchmal wortwörtlich) um Martha. Die 31 jährige Bibliotheksangestellte aus Konstanz befindet sich zu Beginn mit ihrem Vater auf einer Urlaubsreise durch Italien. Als er unerwartet an einer Herzattacke auf der Spanischen Treppe in Rom stirbt, hilft ihr die Deutsche Botschaft, wo ihr erstmals Helmut Salomon begegnet, ein distinguiert wirkender Geschäftsmann Anfang 40. Später, in Deutschland, trifft sie ihn bei einer Hochzeitsfeier wieder und heiratet ihn - gegen den Willen ihrer Mutter, die Martha sogar durch einen Selbstmordversuch davon abzuhalten versucht. Die Ehe wird für Martha zum Gefängnis: gleich nach der Hochzeitsreise bezieht das Paar ein düsteres altes Haus, in dem Martha auf Helmuts Wunsch ein zunehmend isolierteres Dasein führt, das sich ganz auf Helmuts Bedürfnisse ausrichtet. In einer eigentümlichen, aber genau berechneten Mischung aus taktischen Liebesbekundungen und purem Sadismus erzieht Helmut "seine" Martha und biegt sie so lange zurecht, bis sie trotz aller Ergebenheit in Hysterie verfällt. In der Annahme, Helmut wolle sie umbringen, flüchtet sie aus dem Haus und verunglückt im Auto gemeinsam mit einem ehemaligen Arbeitskollegen, der ums Leben kommt - Martha indes bleibt fortan gelähmt und an den Rollstuhl gefesselt.Die im Kern holzschnittartig schlichte Fabel ließe sich in ihren Grundzügen wohl noch kürzer zusammenfassen, denn es ist weniger sie als ihre dramaturgische Auflösung in hochartifiziellen Arrangements und Farben sowie ausgeklügelten Bildern von irritierender Ambivalenz, die dem Film eine Struktur geben. Das beginnt bereits mit dem "Vorspiel" in Rom, das Martha charakterisiert und vorstellt, auch über ihr eigenartiges Verhältnis zu ihrem Vater, den sie beinahe zu ihrem Liebhaber stilisiert. Von Beginn an herrscht eine deutliche Diskrepanz zwischen dem, was die Personen tun und was sie sagen, und damit auch zwischen dem, was sie empfinden und was sie (verbal) vorgeben zu empfinden. Martha hat dieses Ping-Pong-Spiel zwischen den Extremen bis zur Perfektion eingeübt, um ihre eigentliche Lebensunfähigkeit zu kaschieren: ebenso kindlich wie kindisch, regressiv wie rebellisch, unreif wie "überreif lebt sie äußere Konventionen in übergroßen Gesten aus, um ihre zutiefst verstörte Innenwelt zu verbergen, bis sie in Helmut schließlich einen gnadenlosen "Zuchtmeister" findet, der mit einem Blick ihre "Veranlagungen" erfaßt, sie dressiert, sich ihm gefügig macht.Was dabei in der zunächst parodienahen Lustbarkeit durchaus Vergnügen bereitet, wird immer beklemmender und düsterer. Die virtuos kreisende oder schwebende Kamera antizipiert mit ihren Fahrten auf pointierte Gegenstände zu - Telefone, Valium-Fläschchen - schon früh die Bedrohlichkeit des antagonistischen Ehe-Spiels von Martha und Helmut; das üppige Dekor fängt eine selbstverliebte bürgerliche Welt ein und erdrückt Martha regelrecht in ihren "eigenen vier Wänden"; die stets präsenten Spiegel reflektieren keine Abbilder, scheinen vielmehr Brenngläser zu sein, die den Blick auf die Mechanismen von Unterdrückung und Unterwerfung schärfen; zwischen den Szenen, durch Ab- und Aurblenden konturiert, wird der Schwarzfilm immer länger und läßt den süffigen Erzählfluß zunehmend stocken. Daß es die Figuren überhaupt aushalten in dieser bildmächtigen formalen Struktur, ist den beiden vorzüglichen Hauptdarstellern zu verdanken, die dem berechnenden Kalkül der Inszenierung stets verblüffende und unerwartete Seiten abgewinnen. Sie wiederum sind die perfekten Werkzeuge Rainer Werner Fassbinders, der ähnlich manisch inszeniert wie Helmut Martha unterdrückt. Wenn Helmuts Hände lustvoll und sadistisch-gierig über Marthas Sonnenbrand kratzen, dann erinnert das durchaus auch an Fassbinders Inszenierungs-stil - wobei es Fassbinder stets souverän versteht, auf Distanz zu gehen und nicht nur zu verstören, sondern auch zu erhellen.
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