Komödie | Frankreich 1992 | 95 Minuten

Regie: Coline Serreau

Ein erfolgreicher Anwalt kommt nach Verlust von Frau und Job durch gemeinsame Erlebnisse mit einem zufällig angefreundeten Arbeitslosen zu entscheidenden neuen Auffassungen von Glück, Harmonie und sinnvoller Erfüllung im Leben. Eine witzig-analytische Komödie um die gefahrvollen Auswüchse schrankenloser Selbstverwirklichung. Die humorvolle Abrechnung mit problematischen Erscheinungen des modernen Individualismus unterzieht auch die hinter jedem einzelnen stehenden gesellschaftspolitischen Kräfte einer kritisch-satirischen Betrachtung. (Videotitel: "Der Egoist")
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Filmdaten

Originaltitel
LA CRISE
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
1992
Produktionsfirma
Les Films Alain Sarde/TF1 Films/Eniloc/Leader/Raidue/Canal +
Regie
Coline Serreau
Buch
Coline Serreau
Kamera
Robert Alazraki
Musik
Sonia Wieder-Atherton
Schnitt
Catherine Renault
Darsteller
Vincent Lindon (Victor) · Patrick Timsit (Michou) · Zabou (Isabelle) · Annick Alane (Victors Schwiegermutter) · Valérie Alane (Thérèse)
Länge
95 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 6; f
Genre
Komödie
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Diskussion
Wie schon in ihren Komödien "Drei Männer und ein Baby" (fd 25 589) und "Milch und Schokolade" (fd 27 585) überantwortet Coline Serreau auch hier Fehlverbindungen zwischen Individuum und Gesellschaft und Rollenmuster zwischen den Geschlechtern der Subversion des Lachens. In ihre Bestandsaufnahme von Problemen der Glückserwartung, der Belastung durch gesellschaftliche Vorurteile und verschiedene Formen äußerer und innerer Abhängigkeit nimmt sie nun auch die Auswüchse und Folgen der modernen Selbstverwirklichung auf. Um möglichst schnell zum Kern der Sache zu kommen, bedient sie sich einer nicht ganz glaubwürdigen Hauruck-Exposition: innerhalb weniger Stunden am frühen Morgen muß der als Anwalt tätige Erfolgsmensch Victor erfahren, daß seine Frau ihn mit den Kindern wegen eines anderen Mannes hat sitzenlassen und er seinen einträglichen Job losgeworden ist.

Geschockt und trostbedürftig, versucht er in seiner desolaten seelischen Situation bei guten Freunden Anteilnahme und Beistand zu finden. Aber ob Schwiegermutter, Freund, Sekretärin, Arzt oder Schwester, sie alle nehmen sein Schicksal nur oberflächlich zur Kenntnis und allenfalls zum Anlaß, ihre eigenen Probleme und Krisen vor Victor zu entkorken. Erst als der Verstörte nach dem Hineinhorchen in die privaten Höllen der anderen durch Zufall die Bekanntschaft mit einem lebenskünstlerischen Arbeitslosen namens Michou macht, kann er sich sein kummervolles Schicksal vom Herzen reden. Und es ist gerade dieser Mann von einfachem Zuschnitt und ohne sonderlichen geistigen Schliff, der durch innere Harmonie und natürliche Begabung zur Nächstenliebe befähigt ist, Victor tröstend zu entlasten und ihm einen Kompaß für den richtigen Weg zu wahrhaftem Lebenssinn und erfüllter Lebenssicherung zu geben.

Bis es dazu kommt, durchlaufen Victor und Michou in wachsender Freundschaft gemeinsam verschiedene gesellschaftliche Bereiche und Ereignisse, haben sich mit allen möglichen aktuellen Einblasungen lichtsuchender oder ideologischer Typen auseinanderzusetzen und als Zeugen ehelicher Zimmerschlachten wie politischer Doppelzüngigkeit Gelegenheit genug, die Gründe für Zersetzungen menschlichen Miteinanders herauszufinden. Sie sehen, wie niemand dem anderen mitfühlend zuhört, Emanzipation die Moral ersetzt, unverbindliche Freundlichkeit an die Stelle der Nächstenliebe tritt und durchweg die Liebe zu sich selbst herrscht. Sie sehen aber auch, wie der nur auf den "Profit" ausgiebiger Selbstverwirklichung bedachte Mensch sich in der Isolation verliert und ohne das "liebende Echo" des anderen in seelischer Armut als Persönlichkeit zerfällt. In dieser Odyssee durch den modernen Individualismus erwacht in Victor der analytische Geist, der entziffert und zuordnet, gegegeneinandersetzt und assoziiert. Er erkennt, daß seine Frau ihn nicht wegen einer neuen Begehrlichkeit, einer "wandernden Liebeskraft" verlassen hat, sondern aus Mangel an Anerkennung und Achtung ihres Ichs durch das andere, Victors Ich. Und Victor weiß nun auch, daß kein bürgerliches Recht als Instrument der Lösung von Konflikten eingesetzt werden sollte, solange in einer erkaltenden Ehe festgefahrene Partner fähig sind, durch das Erlernen neuen Aufeinanderzugehens stumpfes Ertragen zu überwinden. Und so endet der Film denn auch mit der Chance eines neuen Anfangs, als Victors Frau, die auch ihre Erkenntnisse gewonnen hat, zurückkehrt.

Wenn Coline Serreau das alles auch mit witzig-analytischer Schärfe und psychologischer Dichte unter Einsatz von Assoziationsketten protokolliert und keinen Zweifel läßt, wie sehr sie gegen eine Gesellschaft von Ex-und-Hopp-Partnerschaften ist, macht sie andererseits doch auch deutlich, daß eine für Menschen geschaffene Institution wie die Ehe nicht alle Möglichkeiten des Menschen berücksichtigt. Auch läßt sie immer wieder die gesellschaftspolitischen Kräfte wittern, die hinter den Menschen und ihren Krisen und Konflikten stehen. Daß sie das dramaturgisch geschickt vemetzte Durch- und Gegeneinander ihrer Figuren mit sublimen wie mit derben Mitteln der Komödie ausschließlich ins Licht des Humors stellt, läßt ihren die Menschen ständig in Nah- und Großaufnahmen zerstückelnden Film bestimmt eher Überlegungen und Selbstkritik im Betrachter wachrufen als jede vielleicht künstlerisch ausgefeiltere, aber abstrakte Vorführung existentieller Modellsituationen.
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