Am achten Tag

- | Frankreich/Belgien 1996 | 118 Minuten

Regie: Jaco Van Dormael

Ein junger mongoloider Mann verläßt unbemerkt das Heim für Geisteskranke, in dem man ihn untergebracht hat, und begegnet einem Werbestrategen, der in eine tiefe Daseinskrise geraten ist. Zwischen den beiden ungleichen Außenseitern entwickelt sich eine von tiefer Zuneigung geprägte Freundschaft. Ein teilweise ins Märchenhafte übersteigertes Drama, das auf der Basis der präzisen Charakterisierung eines am Down-Syndrom leidenden Menschen formal virtuos dessen überbordende Gefühls- und Fantasiewelt nutzt, um die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Illusion aufzuheben. Insgesamt aber eher ein unterhaltsamer filmischer Schelmenroman als eine überzeugende Auseinandersetzung mit der "Normalität" und dem Problem der Ausgrenzung des "Unnormalen". - Ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
LE HUITIEME JOUR
Produktionsland
Frankreich/Belgien
Produktionsjahr
1996
Produktionsfirma
Pan-Européenne/Canal +/Centre National de la Cinématographie/Centre du Cinéma et de l'Audiovisuel de la Communauté Française de Belgique
Regie
Jaco Van Dormael
Buch
Jaco Van Dormael
Kamera
Walther van den Ende
Musik
Pierre van Dormael
Schnitt
Susana Rossberg
Darsteller
Daniel Auteuil (Harry) · Pascal Duquenne (Georges) · Miou-Miou (Julie) · Isabelle Sadoyan (Georges' Mutter) · Henri Garcin (Firmendirektor)
Länge
118 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Externe Links
IMDb | TMDB

Diskussion
Georges ist mongoloid. Der junge Mann wurde nach dem Tod seiner Mutter in einem Heim für geistig Behinderte untergebracht, wo niemand in der Lage ist, aufseine Bedürfnisse, Empfindungen und Vorstellungen einzugehen. Und so träumt sich Georges mit aller Intensität in seine Gedankenwelt hinein, in der er sich die Wunder der Natur nicht nur selbst erklärt, sondern sie sich regelrecht erobert, selbst zum Baum wird, zum Freund des Grases, zum Bewunderer eines Marienkäfers, der die Flügel zum Fluge öffnet. So schöpferisch und naiv, maß- und grenzenlos zugleich Georges mit seinem Weltverständnis umgeht, so selbstverständlich konstruiert er auch die Schöpfungsgeschichte um, um beispielsweise auch das "Wunder" des Fernsehens in Gottes Plan einzubeziehen. Was Georges in seinen Weltenplan aber nur unzureichend einzubeziehen vermag, sind seine Gefühle; zwar zaubert er sich einen Schnulzen-Tenor namens Luis Mariano herbei, der ihn mit (kitschig-)schönem Gesang betört und besänftigt, es bleibt aber ein nicht zu bewältigendes Defizit: Georges' unstillbare Sehnsucht nach der über alles geliebten Mutter, nach Zärtlichkeit, Geborgenheit, Freundschaft und Liebe. Eines Tages verläßt er unbeobachtet das Heim und macht sich auf die Suche nach der Mutter. Eine an sich fruchtlose Suche, resultierend aus einem Moment der Verwirrung, die sich aber zum initialen Impuls für seine Suche nach einem Daseinssinn entwickelt.

Nun ist Georges nicht die alleinige Hauptfigur des Films, er teilt sich die zentrale Rolle mit Harry, einem gutsituierten, ansonsten aber weitgehend "normalen" Durchschnittsmenschen. In seinem Beruf als Werbestratege äußerst erfolgreich, ist Harry längst zum Sklaven seiner Arbeit geworden, funktioniert präzise und seelenlos, wirkt äußerlich wie jenes Klischeebild eines selbstbewußten Erfolgsmenschen, das er täglich seinen Kunden predigt. Dabei ist Harry eigentlich aber ein modernes Herdentier, das sich mit Tausenden anderer Menschen dem morgendlichen Stau auf dem Weg zur Arbeit aussetzt. Sein Leben aber hat Risse bekommen: seine Frau hat ihn mit den beiden Kindern verlassen, und seitdem giert der verständnislose Harry nach einer Erklärung, die er weder erhält noch sich selbst zu geben vermag. Zusehends rutscht er aus dem System seines präzisen Alltagsrhythmus. Ausgerechnet in dieser schwierigen Situation taucht Georges in seinem Leben auf, um sich beharrlich, kindlich-naiv und störrisch-dreist zugleich darin festzusetzen. Harry wehrt sich, will Georges so schnell wie möglich loswerden, doch das ist letztlich nicht möglich. Und so geraten die beiden auf eine recht kuriose Odyssee des Leidens und des Lachens, bei der sich der eine bald an den anderen anlehnt, seinen Trost und seine Nähe sucht - zwei grundverschiedene Außenseiter, vor denen andere zurückschrecken, weil beide auf ihre Weise außerhalb der Normalität stehen bzw. dorthin geraten.

Jaco van Dormael schuf einen Film um große und kleine Dramen, mal bewegend, mal trotz der Schwere seiner vielen Themen amüsant und unterhaltsam. Das deutet bereits auf die Gratwanderung, die er gleich einem Zirkusartisten vollzieht: auf der Basis einer sehr präzisen Charakterisierung eines am Down-Syndrom leidenden Menschen nutzt er dessen Gefühls- und Fantasiewelt, die wie die eines Kindes grenzenlos, impulsiv und erschreckend spontan sein kann, um die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Illusionen aufzuheben. Virtuos verschachtelt van Dormael Zeit, Schauplätze, "Visionen" und Einbildungen, zelebriert mit technischer Souveränität die "Wunder", die Georges in der Natur, aber auch in sich selbst findet. Ähnlich wie in "Toto der Held" (fd 29 209) gelingt es van Dormael in so mancher Szene, einen Einblick in das sinnliche Dasein eines Menschen zu schaffen, wobei er geradezu hymnisch das "Nicht-Normale" als große Chance feiert. Die verklausulierte Botschaft, daß man etwas "anders" sein muß, um glücklich zu sein, ist aber ebenso faszinierend wie naiv, und van Dormaels Konzept fügt sich alsbald selbst Risse zu: Seine einfache Welt mit einfachen Lösungen entpuppt sich als Illusion.

So wie der Film an Stringenz und erzählerischer Dichte einbüßt (und manchmal Klischeeszenen aus "Einer flog übers Kuckucksnest", fd 19 710, oder "Rain Man", fd 27 420, ins Gedächtnis ruft), so stellt sich die Frage nach der Konsequenz seines Entwurfs. Offensichtlich versteht er sich ja weniger als analytischer Forschungsbericht, der einen mongoloiden Menschen studiert; vielmehr inszenierte van Dormael einen filmischen Schelmenroman, in dem sowohl der mongoloide als auch der "normale" Held ihre mannigfaltigen Schicksale und Abenteuer als Umhergetriebene durch das ihnen zugestandene Leben erfahren, was letztlich dazu dient, den Alltag der "Normalen" aus der Perspektive "von unten her" zu desillusionieren: Dieser Alltag ist genormt, fantasiefeindlich, der Offenheit für Gefühle wie für andere Menschen abträglich. Was aber bleibt über diese nicht sonderlich aufregend neue Aussage in letzter Konsequenz für die beiden "Helden"? Für Harry, den vermeintlich "Normalen", bleibt das Herausfallen aus dem sozialen Netz, das man als Erlösung und Gnade verstehen soll; eine "Befreiung", die sich in der abrupt und weitgehend unmotiviert angehängten Versöhnung mit seiner Familie manifestiert und was sich einerseits in seinem seltsam verklärten Lächeln versinnbildlicht, andererseits in seinem (kindlichen?) Scherzen mit Müllmännern, die den zur Arbeit fahrenden "Norm-Menschen" kurzzeitig die Straße versperren, um die Mülltonnen zu leeren - womit sie auch schon zum Sinnbild für konstruktive Quertreiber und Anarchisten stilisiert sind, die sich zumindest kurzzeitig dem Fluß der Herdentiere entgegenstemmen. Und was bleibt für Georges? Für ihn, den Außenseiter, bleibt nur die Erlösung im freiwilligen Tod, im sich Verabschieden von der "brutalen" Welt zugunsten eines Hinübergleitens in diffus "eigene Gefilde", zurück zu den Quellen seiner Träume und Fantasien, ins Reich der toten Mutter als der ultimativen Projektion aller im irdischen Dasein unerfüllten Sehnsüchte nach Liebe, Zuneigung und Zärtlichkeit. Fast muß man dies als märchenhaft verklärtes Ausgrenzen eines "anderen" interpretieren: Kann das eine Perspektive sein?

Unzweifelhaft verhält sich Jaco van Dormael unvoreingenommener und aufrichtiger gegenüber einem mongoloiden Menschen als so mancher Durchschnittsbürger. Bei aller Erkenntnis und Bewegtheit, die er damit vermittelt, bei aller Bewunderung für seine fantastischen und "verrückten" Einfälle bleibt aber der Eindruck, daß das Thema mehr zu einer soliden Unterhaltungsgeschichte umgesetzt wurde, als daß es sich zu einem in letzter Konsequenz gedanklich überzeugenden Entwurf verdichtet. Vieles macht sich der Film zu einfach, und manchmal ist er so plakativ wie eine Seite aus dem Presseheft, das ihn begleitet und das die Handlung an einer Stelle durch einen Schmetterling und ein Handy-Telefon illustriert: das ist griffig und schnell einleuchtend, aber ohne subtilere Zwischentöne.
Kommentar verfassen

Kommentieren