Traumstreuner

- | Deutschland 1994 | 94 Minuten

Regie: Erwin Michelberger

Nach dem Tod seiner Frau verläßt ein 70jähriger Mann sein Heimatdorf in der Schwäbischen Alb, um noch einmal die Ereignisse einer Reise nachzuvollziehen, die ihn vor mehr als 50 Jahren auf der Flucht vor Krieg und Diktatur in die Schweiz führte. Mit ihm reist sein zunächst verständnisloser 19jähriger Enkel, der mit seiner eigenen Suche nach Reife und Identität beschäftigt ist. Intensiv beschreibt der Film das Zusammenkommen der beiden grundverschiedenen Menschen, wobei er zahlreiche Traumbilder als gleichberechtigte Handlungsebene einsetzt. Dabei werden die Grenzen zwischen Gegenwärtigem und Vergangenem sowie bewußt und unterbewußt Erfahrenem fließend und verweisen auf grundsätzliche Strukturen des Daseins. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
1994
Produktionsfirma
Michelberger Film/Popularfilm/Süddeutscher Rundfunk
Regie
Erwin Michelberger
Buch
Erwin Michelberger
Kamera
Paul Elmerer · Slawomir Idziak
Musik
Susanne Hinkelbein
Schnitt
Maggie Bauer
Darsteller
Bernd Gnann (Cheko/Anton) · Johannes Thanheiser (Felix) · Gina Maas (Anna/Gustl) · Alexander Schröder (Felix als junger Mann) · Walter Schultheiß (Karle)
Länge
94 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
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Diskussion
Als er vom Tod seiner Großmutter erfährt, kehrt der 19jährige Cheko aus Berlin in sein kleines Heimatdorf in der Schwäbischen Alb zurück. Eher widerwillig hat er die Reise in seine Vergangenheit angetreten, wird er doch nun mit Spuren einer ihm längst zu eng erscheinenden Welt konfrontiert, die er hinter sich lassen wollte, um in Berlin seinen Weg zu finden. Seine Großmutter hat ihm einen Brief hinterlassen, in dem sie ihn bittet, sich um Felix, seinen Großvater, zu kümmern. "Ich wünscht', Du könntest ihn aus seinen Eigenarten herausholen", schrieb sie. Der kantige, wortkarge 70jährige hebt die Fenster aus den Angeln des Trauerhauses und bereitet sich seinerseits auf einen Abschied vor. Mit dem zunächst mehr als verständnislosen Cheko im Schlepptau macht er sich auf den Weg zum Bodensee, wohin es ihn vor mehr als 50 Jahren schon einmal zog, als er mit seinem Freund Anton und der Magd Gustl vor Krieg und Diktatur in die Schweiz flüchten wollte. Was sich während dieser Flucht genau ereignete und warum Anton plötzlich verschwand, blieb bislang Felix' Geheimnis; im Dorf spekulierte man und machte den friedliebenden, gegen Krieg und Nazitum rebellierenden Anton zum Helden und Märtyrer. Chekos und Felix' Weg kreuzt sich mit dem von Anna, einer jungen Frau, die sich schon bald zu Cheko hingezogen fühlt. Der Weg der drei entwickelt sich zur Odyssee durch Gast- und Bauernhöfe sowie durch idyllische Landschaften, vor allem aber durch immer intensiver werdende Traumvisionen, in denen sich die Erinnerungen des Alten und die Fantasie der Jungen unentwirrbar vermischen.

Ein 70jähriger, der mit dem Leben abschließt, ein 19jähriger, der gerade erst hineinstolpert - kaum unterschiedlicher könnten die Voraussetzungen für das Zusammenkommen zweier Menschen sein. Doch was für den Alten die abschließende Suche nach seinem Seelenfrieden und für den Jungen eine Suche nach Identität und Reife ist, hat einen gemeinsamen Kern: immer intensiver verbindet sie ihr Bedürfnis nach einem Erlöstwerden, nach einer Befreiung von den Zweifeln und der Unruhe ihrer Seele. Daß die beiden so grundverschiedenen Persönlichkeiten überhaupt einen Zugang zueinander finden, ist Folge verschiedener Ereignisse, kleiner und kleinster Gesten, die sich zu einem tragfähigen Netz verknüpfen: Felix' ungewöhnlicher Tanz in einer Dorfdisco, sein unvoreingenommener, ganz dem Leben zugewandter Zugang auf eine vermeintliche Domäne der Jugend, die glaubt, sich allein im Tanz emotional ausleben zu können, oder auch die intuitive Vermittlung Annas, die gleichsam katalysatorisch die Zuneigung des Alten und des Jungen zueinander fördert. Vor allem aber ist es der inszenatorisch sehr ungewöhnliche Einsatz von Traumbildern als einer vollkommen gleichberechtigten Handlungsebene, durch die den Annäherungsprozessen der Personen neben dem bewußten auch ein intuitiver, unterbewußter Akt zugeordnet wird: schlafwandlerische, der Wirklichkeit zunächst entrückte Eindrücke des Unterbewußten, gespeist aus den konkreten wie emotionalen Eindrücken, Ängsten und Wünschen des Tages, vermischen sich mit Motiven aus der Erinnerung, schließlich auch mit Imaginationen über das, was man selbst nicht erlebt hat, in das man sich aber hineinzuträumen vermag. So wird auch Geschichte mit eigenen Erfahrungen und Empfindungen besetzt, wenn der Zuschauer allmählich nicht mehr zwischen Rückblenden auf das Geschehen vor 50 Jahren und den gegenwärtigen Träumen der Protagonisten unterscheiden kann. Vergangenheit und Gegenwart sind zur selben Zeit präsent, nichts ist abgeschlossen, wenn es darum geht, sich der Grundstrukturen des Daseins und des Menschseins zu versichern. Das mag auf den ersten Blick etwas Bruchstückhaftes und Unfertiges haben und den Eindruck erwecken, da poltere der Regisseur über eine filigranere Psychologisierung der Figuren einfach hinweg; dabei ist sein Entwurf bestechend: nicht nur weil Michelberger eine sehr ungewöhnliche Form des Dialogs zwischen alt und jung beschreibt, sondern auch, weil er die Innenwelt der Menschen für ein anderes, vielleicht besseres Verständnis "historischer" Ereignisse erschließt. Der konsequente Einsatz von Dialekt mag eine weitere Hürde sein, die den Zugang zu diesem sperrigfaszinierenden kleinen Film erschwert, doch gehört auch die Sprache zu dem traumwandlerischen Kosmos, durch den man in der Tat offenen Auges streunen sollte, um ihn für sich zu erschließen.
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