ORiginal WOlfen - aus der Geschichte einer Filmfabrik

Dokumentarfilm | Deutschland 1995 | 70 Minuten

Regie: Niels Bolbrinker

Eine fast kommentarlose Reportage über 80 Jahre Fabrikation von Filmmaterial in Wolfen. Die Historie der Filmfabrik setzt sich aus Archivaufnahmen und Erinnerungen von Zeitzeugen zusammen. In den Gegenwartsbildern dominiert Atmosphärisches: der Abriß der Anlagen, die Entsorgungstrupps, die Spurensuche durch Laienmaler und Betriebsarchivare. Bilder und Gespräche des Films sind von einer hohen Achtung vor dem Arbeitsethos der Wolfener Beschäftigten geprägt. Ein spannender, mitunter etwas melancholischer Exkurs in die deutsche Industriegeschichte dieses Jahrhunderts. - Ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
1995
Produktionsfirma
Brandenburger Filmbetrieb
Regie
Niels Bolbrinker · Kerstin Stutterheim
Buch
Niels Bolbrinker · Kerstin Stutterheim
Kamera
Niels Bolbrinker
Schnitt
Niels Bolbrinker
Länge
70 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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IMDb

Diskussion
Arbeiter verlassen die Fabrik, Niels Bolbrinker und Kerstin Stutternheim zitieren den alten Film der Gebrüder Lumière und geben dessen Titel eine neue Bedeutung: Nach dem Ende der DDR und den gescheiterten Bemühungen der Treuhand mußten über 10.000 Arbeiter von ihrem Werk, der Filmfabrik ORWO in Wolfen, Abschied nehmen. Eine der tradtitionsreichsten Produktionsstätten des deutschen Ostens ist nach der am 20. Mai 1994 eingeleiteten Liquication dabei, ihre Pforten zu schließen. Heute gibt es hier noch etwa 2.000 Menschen, die den Betrieb entkernen und in den Prozeß einer ökologischen Entsorgung eingebunden sind. "Man vermeidet das Wort Demontage und sagt Rückbau", sagt ein älterer Chemiker, und: "Wir veröden industriell. Wir sind Absatzmarkt, aber kein Produktionsort mehr."

"ORiginal WOlfen" ist das Requiem auf eine Filmfabrik. Eine sachliche, bisweilen melancholische Rückschau auf ein knappes Jahrhundert Industrialisierung. Aus historischen Aufnahmen und Interviews mit Zeitzeugen setzt sich die Geschichte einer Firma zusammen, die für das deutsche Kino unentbehrlich war. 1909 baute man das Agfa-Werk auf grüner Wiese: Das Land war billig, das Wasser der Mulde nah, und es standen Arbeitskräfte mit einem vergleichsweise niedrigen Tarif zur Verfügung. Mitte der 20er Jahre wurde Agfa zu einem Bestandteil des IG-Farben-Konzerns. Nach dem Zweiten Weltkrieg übernahm die sowjetische Besatzungsmacht den Betrieb, bis 1953. 1964 schließlich wurde das Warenzeichen Agfa, das die Russen versäumt hatten zu schützen und das ein Leverkusener Werk für sich beanspruchte, in ORWO umgewandelt: Original Wolfen.

Über all diese Etappen gibt im Film ein Archivar Auskunft. Doch Bolbrinker und Stutternheim interessieren sich nicht nur für den groben Ablauf der Historie, sondern viel mehr für deren spannende, immer auch mit Politik korresponierende Details. Im Ersten Weltkrieg beispielsweise wuchs die Fabrik, weil der Absatz von Röntgenfilm für die Behandlung von Verwundeten sprunghaft anstieg. Mitte der 30er Jahre drängten die Nazis darauf, die Farbfilmforschung zu extensivieren; Agfa-Color wurde als Prestigeobjekt erstmals bei den Olympischen Spielen 1936 eingesetzt. Versuchsaufnahmen aus jener Zeit zeigen junge Sportlerinnen mit dem Hakenkreuz auf der Brust während einer Massengymnastik. Einziger männlicher Zuschauer ist, unauffällig am Rand plaziert, ein Soldat. Von den "Fremdarbeiterinnen", die während des Zweiten Weltkriegs nach Wolfen verschleppt wurden und in elenden Häftlingsbaracken hausen mußten, fehlt allerdings fast jeder optische Beleg.

Auf ihrer angenehm leisen und unspektakulären, mit nur wenig Kommentar versehenen Spurensuche kommen Bolbrinker und Stutternheim immer wieder auf den Alltag bei Agfa und ORWO zu sprechen. Die Filmfabrik war vorwiegend ein Frauenbetrieb, und so sind es meist Frauen, die sich erinnern. Eine alte Dame sinniert über ihren Einsatz als "Darstellerin" in Versuchsfilmen: Dabei mußten sich Laborantinnen häufig zu Ladys in Abendgarderobe verwandeln, willkommene Abwechslung in einem Berufsleben, das vor allem in der Dunkelkammer stattfand. Jüngere Beschäftigte reflektieren ihre Lebensbedingungen in der DDR: Bei ORWO wurden Kindergärten, Ambulatorien, Kaufhallen, eine Sauna und vieles mehr eingerichtet; es sah ganz danach aus, als würde verwirklicht, was die Werkszeitung der Agfa schon 1918 postuliert hatte: "Eine Fabrik ist wie eine große Familie". Daß diese Betreuung rund um die Uhr einen ganz pragmatischen Grund hatte, nämlich die Arbeiterinnen für ständig höhere Produktionsleistungen fit zu machen, beeinflußt den positiven Tenor der Reminiszenzen kaum: "Es existierte ein Gefühl von Vertrautheit und Sicherheit."

Bolbrinker und Stutternheim widersprechen dem nicht. Sie kommentieren solche Sentenzen weder mit nostalgischer "War-das-doch-schön"-Attitüde noch mit jenem modischen Zynismus, der sich in den Medien breitmacht, wenn es um ostdeutsche Biografien geht. Auch dem ausschließlich skurrilen Blick auf den Osten verweigern sich die Autoren; sie hören und schauen einfach zu; sie nehmen ernst, was ihnen anvertraut wird. In den Gegenwartssequenzen dominiert Atmosphärisches: Laienmaler, die sich auf dem weiträumigen Gelände mit ihren Staffeleien eingerichtet haben und nun ein Ruinenfeld zeichnen. Ein Betriebsarchivar, der ein Stalingemälde entdeckt hat, das Mitte der 50er Jahre mit dem Gesicht zur Wand gedreht wurde, die einfachste Art von Vergangenheitsentsorgung. Und ein Chemiker, der das Geheimnis der Emulsion mit dem der Coca-Cola-Rezeptur vergleicht.

Gerade die Interviews mit diesem Mann kreisen immer wieder um Fragen des Arbeitsethos. Die Verbundenheit mit der Firma, den Stolz auf ihre Geschichte, den Schmerz über die Stagnation, die im letzten Jahrzehnt der DDR wie ein Schleicher über ORWO lag. Manchmal erweist sich der Chemiker sogar als Philosoph: "Wir wollten", erzählt er, "daß in unseren Filmen die Natur so aussieht, wie sie ist. Daß der Himmel auch mal grau erscheint und das Gras nicht nur grün. Andere Firmen gingen andere Wege: Alles sollte schön sein. Die Menschen immer so, als seien sie gerade aus dem Sommerurlaub gekommen..." Und nach einer Pause setzt er nachdenklich hinzu: "Unsere Tradition ist jetzt beendet."
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