Drama | USA 1995 | 111 Minuten

Regie: Mike Figgis

Die letzten Wochen im Leben eines Alkoholikers, der beschließt, sich in Las Vegas zu Tode zu trinken, wovon ihn auch die unerwartete Liebesbeziehung zu einer Prostituierten nicht abbringen kann. Eine unbeschönigte Bestandsaufnahme menschlicher Leidens- und Liebesfähigkeit, in der sich Dokumentation und Poesie zu einer ebenso deprimierenden wie beunruhigenden Beschreibung existenzieller Grenzsituationen treffen. In seiner kompromißlosen Konsequenz für manchen Zuschauer ein sicher schwer erträglicher Film, der sich moralischer Kategorisierung verweigert und statt dessen zur Reflexion über individuelle Schicksale einlädt. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
LEAVING LAS VEGAS - A LOVE STORY
Produktionsland
USA
Produktionsjahr
1995
Produktionsfirma
Lila Cazes/Lumière Pictures
Regie
Mike Figgis
Buch
Mike Figgis
Kamera
Declan Quinn
Musik
Mike Figgis
Schnitt
John Smith
Darsteller
Nicolas Cage (Ben) · Elisabeth Shue (Sera) · Julian Sands (Yuri) · Richard Lewis (Peter) · Steven Weber (Marc Nussbaum)
Länge
111 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama | Literaturverfilmung
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Heimkino

Verleih DVD
Alligator DVD (1.85:1, DD5.1 dt.), DTS Fsg.: Alligator DVD (1.85:1, DD5.1 & DTS dt.)
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Diskussion
Der heute 46jährige englische Filmemacher Mike Figgis (siehe fd 13/93 und 16/94) ist einer der wenigen Autoren und Regisseure, die sich selbst auch unter ungünstigen Umständen treu zu bleiben versuchen. Er gehört weder zu den filmischen Romanciers noch zu den Apologeten eines kritischen Kinos. Figgis interessiert sich für die Schicksale hinter den äußeren Ereignissen, die er mit akribischer Genauigkeit beobachtet, aber nicht in Frage stellt. Er ist ein Kartograf menschlicher Probleme, kein Therapeut. Das erleichtert nicht gerade den Zugang zu seinen Filmen, weil viele Zuschauer zumindest den Ansatz zu einer Lebenshilfe auch im Kino zu finden hoffen. Doch Figgis‘ Filmporträts versagen sich und dem Publikum diesen nächsten, interpretierenden Schritt. Sie beunruhigen, und sie hören damit auch noch nicht auf, wenn man das Kino verlässt. Nach einem eindrucksvollen Beginn mit „Stormy Monday“ (fd 27 046) hat Figgis lernen müssen, mit Halbheiten zu leben. Zwar war er in der Lage, sich stets Stoffe zu wählen, die seinen Neigungen entsprechen, doch bei der Ausführung unterlag er den gleichen Schwierigkeiten, die auch anderen Individualisten in Hollywood das Leben schwer gemacht haben (Welles und Losey zum Beispiel): Ein ausschließlich kommerziell ausgerichtetes Produktionssystem zwang ihn entweder zu Kompromissen („Internal Affairs“, fd 28 259) oder ruinierte nachträglich seine Arbeit („Mr. Jones“, fd 30 748). In „Liebestraum“ (fd 30 360) ließ ihn MGM immerhin die Grenzen seiner künstlerischen Fähigkeiten ausloten, in „Schrei in die Vergangenheit“ (fd 31 651) konnte er sich einer Bühnenvorlage annehmen, die erstaunliche Parallelen zu seinen anderen Arbeiten aufweist. Doch zum ersten Mal nach seinem Debütfilm boten ihm der autobiografische Roman eines Alkoholikers und das Geld einer französischen Produktionsgesellschaft die Möglichkeit, ohne Rücksicht auf Agenten, Banken und Studios einen Film ganz nach seinen Vorstellungen zu machen. Das Ergebnis wäre fast durch den Selbstmord des 34jährigen Romanautors John O’Brien vereitelt worden, der Figgis emotional aus der Bahn warf, nachdem er das Drehbuch schon fertig hatte. „Ich habe ernsthaft überlegt, den Film nicht zu machen, doch schließlich rang ich mich dazu durch, dass es das Beste sei, was ich für John tun könnte, weiterzumachen und den Film zu drehen.“ O’Briens Buch ist – in den Worten des Hauptdarstellers Nicolas Cage – der 189seitige Abschiedsbrief eines Selbstmörders. Ben Sanderson ist Drehbuchautor. Der Zuschauer erfährt nicht viel über sein Leben, außer dass er Alkoholiker ist und dadurch bereits seine Frau und sein Kind verloren hat. Nun verliert er auch seinen Job. Doch statt Einsicht oder Selbstmitleid stellt sich in Bens alkoholisiertem Hirn ein messerscharfer Entschluss ein: Er verbrennt seine Habseligkeiten, rafft den Rest seines Geldes zusammen und fährt nach Las Vegas, um sich dort in einem schäbigen Motel zu Tode zu trinken. Ben hat alles genau geplant und berechnet. Es wird drei Wochen dauern bis zu seinem Exitus. Diese drei Wochen lang bleibt Mike Figgis‘ Kamera an seiner Seite. Während Bens körperlicher Verfall langsam fortschreitet, lernt er eine Prostituierte kennen, in die er sich verliebt. Fortan findet der Film eine zweite Bezugsperson, ebendiese Sera, die Ben als seinen Engel bezeichnet. Aber er will nicht, dass der Engel ihn „rettet“. Bevor er mit Sera zusammenzieht, muss sie ihm versichern, ihn nie vom Trinken abzuhalten. Obwohl Ben in seinem Zustand kaum noch zu physischer Liebe fähig ist, entwickelt sich zwischen beiden ein unsentimentales, doch nicht weniger zärtliches Verhältnis. Am Ende ist Ben, wie angekündigt und geplant, tot, und Sera bleibt nichts als die Selbstbekenntnisse bei einem (für den Zuschauer unsichtbaren) Therapeuten. Figgis nähert sich dieser Geschichte wie ein Dokumentarist, aber gleichzeitig wie ein Poet. Indem er seine Darsteller zu totaler Selbstentäußerung anhält, indem er jede Nuance der sich entwickelnden Beziehung und des unaufhaltsam sich nähernden Endes mit der Kamera registriert, liefert er die wohl überzeugendste und realistischste filmische Beschreibung des Alkoholismus in einer an Alkoholikerporträts nicht gerade armen Filmgeschichte ab. Im Vergleich zu „Das verlorene Wochenende“ (fd 65), „Die Tage des Weines und der Rosen“ (fd 11 957), „Unter dem Vulkan“ (fd 24 813) und „Arthur – Kein Kind von Traurigkeit“ (fd 23 297) ist Figgis‘ Film von extremer Kargheit, zurückgenommen und konzentriert auf eine fast klinische Bestandsaufnahme. Doch Figgis bleibt dabei nicht stehen. Ähnlich wie schon bei seinem Erstling, „Stormy Monday“ sind es die reduzierten Ausdrucksmittel der Darsteller, die dokumentierenden, aber nicht abstrahierenden Einstellungen, das Licht und die (von Figgis selbst beigesteuerte) Musik, die dem Geschehen eine über die bloße Abbildung hinausgehende Dimension verleihen. Der Zuschauer, der durch die Verleihankündigung einer Liebesgeschichte zum Besuch verleitet wurde, wird in dem Film alles Sentimentale vermissen. „Leaving Las Vegas“ ist eine der am wenigsten selbstgefälligen Liebesgeschichten. Der aufmerksame Zuschauer wird andere Qualitäten in ihr entdecken: Vorurteilslosigkeit, Anteilnahme und Menschlichkeit. Sie alle leiten sich aus der poetischen Qualität ab, die Figgis dem spröden, ganz und gar unpittoresken Material entlockt. Kein Schauplatz, keine Figur, keine Wendung der Handlung ist das, was man gemeinhin im Kino zu sehen gewohnt ist. Die Straßen und die Spielhallen von Las Vegas haben das verführerische Gleißen mit der kalten Leuchtkraft eines verlöschenden Sterns vertauscht; die Menschen zählen nicht nach dem, was sie sind oder zu sein scheinen, sie werden nur am Ausmaß ihrer Leidens- und Liebesfähigkeit gemessen; wo konventionelle Autorenweisheit Funken beruhigender Hoffnung schlagen würde, folgen die Charaktere dieses Films den Markierungen eines unwandelbaren Schicksals. Es ist ein unübersehbarer Fatalismus, der über der klinischen Kalkulierbarkeit des Geschehens liegt, eine Variation der Todesphilosophie von „Liebestraum“ mit anderen Mitteln, aber es ist eine vermehrt sanfte, mitfühlende Beschreibung langsamen Verlöschens. Der Kreislauf von Zärtlichkeit, Schmerz und Tod ist das beherrschende Thema, das alle Filme von Mike Figgis prägt. Mit einem Budget von nur 3,5 Millionen Dollar, mit der Rückkehr zur Handkamera und zu (später aufgeblasenem) Super-16-Material hat sich Figgis für „Leaving Las Vegas“ die Freiheit erkauft, einen ganz und gar persönlichen, keinem Kompromiss unterworfenen Film zu machen. Für manche Zuschauer mag es mühevoll sein, sich dem Film zu öffnen, weil er eine Welt beschreibt, die einfacher zu verleugnen denn als Bestandteil unserer Gesellschaft zu akzeptieren ist. Figgis beschönigt nichts, er dramatisiert nichts, er kümmert sich nicht um Kommerzialität, er versucht, nichts als ehrlich zu sein. Die traurige Lebensgeschichte des John O’Brien hat in Mike Figgis ihren banalen Anwalt gefunden.

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