Mit "Casino" kehrt Martin Scorsese heim zu den Wurzeln seines Schaffens, zu den Charakteren von "Hexenkessel"
(fd 19 864) und "Good Fellas"
(fd 28 549), zu den "morality plays" über Macht, Geld und Verlust der Menschlichkeit, letztlich zu einer der Basissituationen, die Amerikas Geschichte - und vor allem die Geschichte der italienischen Einwanderer - bestimmt hat. Im letzten Teil dieser sich über mehrere Jahrzehnte und über die gesamte Entwicklung des Filmemachers Scorsese hinziehenden Trilogie verläßt er die Straßen von New York und stürzt sich mit der peniblen Akribie eines besessenen Historikers und mit dem Feuereifer eines in seiner Virtuosität kaum zu überbietenden Filmregisseurs auf die letzte Bastion des organisierten Gangstertums, auf die Spielerstadt Las Vegas in den 70er Jahren, eine Hochburg der im Osten bereits an Einfluß verlierenden Mafia. "Casino" basiert auf einem Buch von Nicholas Fileggi, der auch gemeinsam mit Scorsese am Drehbuch des Films gearbeitet hat, einer genauen Rekonstruktion von Aufstieg und Fall des "Stardust"-Managers Frank "Lefty" Rosenthal und seines Jugendfreundes und späteren Gegenspielers Anthony "Tony the Ant" Spilotro. Was Scorsese offensichtlich an dem Projekt am meisten fasziniert hat, ist die Verbindung einer Analyse des explodierenden Spielerparadieses mit einer beispielhaften Demonstration des Hintergrundes, die geradewegs hineinführt in die Welt der "Mean Streets" und "Good Fellas".Nach einem in seiner Knappheit fulminanten Einstieg und einem - bereits überleitenden - grafisch erfindungsreichen Titelvorspann der Altmeister Saul und Elaine Bass beginnt der Film wie eine brillante Dokumentation der Spielerstadt und des Funktionierens eines hochprofitablen Casino-Betriebs. In diesen ersten 40 Minuten des fast dreistündigen Films zieht Scorsese alle Register seines Könnens. Obwohl vieles zunächst noch abstrakt bleibt, ist dies der spannendste Teil des Films. Während Scorsese sich sonst in seinen Filmen Zeit für lange, ausgetüftelte Einstellungen läßt, entwickelt er hier eine dem Gegenstand adäquate (organisierte) Hektik der Anwendung aller erdenklichen filmischen Möglichkeiten, so daß der Zuschauer den Atem anhalten muß, um sich nicht in der formalen Brillanz dieser Exposition total zu verlieren. Ganz allmählich erst schälen sich die Exponenten der Handlung heraus, obwohl sie es sind, deren Stimmen man bereits im Hintergrund hört und die fortlaufend das Stakkato der Bilder kommentieren.Im Film heißen sie Sam "Ace" Rothstein und Nicky Santoro. Der eine ist ein verbissen auf Ordnung und Respektabilität versessener Jude, den die Mafia wegen dieser Eigenschaften als ihren Statthalter im neuen, gleißenden Tangiers-Hotel in Las Vegas eingesetzt hat; der andere tut die Schmutzarbeit im verborgenen, und er tut sie mit genießerischer Miene und unverhohlenem persönlichem Ehrgeiz. Zwischen ihnen steht eine Frau, Ginger McKenna, von der Sam so fasziniert ist, daß er sie heiratet, obwohl er ihre unehrenhafte Vergangenheit kennt und weiß, daß sie ihn nicht liebt, und mit der sich Nicky schließlich mehr einläßt, als ein Freund es tun sollte. Ohne das Funktionieren des Casino-Betriebes mit seinen heimlich ins Hauptquartier der Mafia-Bosse verschobenen Geldern, seinen Bestechungen und Bestechlichkeiten und seinen überlebensnotwendigen Konzessionen an die lokalen Machthaber aus den Augen zu verlieren, wird aus dem dokumentarischen Blickwinkel fast unmerklich eine persönliche Geschichte. Es ist die Geschichte von Freunden, die sich mehr und mehr in Schuld verstricken und die - jeder aufseine Weise - ihren bitteren Lohn empfangen.Martin Scorsese ist ein Moralist, und er hat sich nie gesträubt, das Wort auf sich und auf sein Werk anzuwenden. "Casino" ist deshalb etwas ganz anderes geworden als ein nostalgisches Porträt der Spielerstadt, obwohl der Einfluß von Phil Karlsons "Five Against the House" und Lewis Milestones "Frankie und seine Spießgesellen" (fd 9994) spürbar bleibt. In "Casino" geht es um Geld, Gier und Selbstzerstörung, um Menschen, die Situationen schaffen, die mächtiger sind als sie selbst, und die letztlich von ihnen überwältigt werden. Es ist die uralte Geschichte von Versuchung und Fall, die Scorsese hier inszeniert. "Diese Menschen hatten das Paradies ganz für sich selbst und sind gescheitert. Vielleichtwar die Beschaffenheit jener Epoche daran schuld, gekoppelt mit ihrem persönlichen Stolz und ihrem Selbstbewußtsein ... Es ist wie im Alten Testament. Alles war so offenkundig, daß sie es nicht einmal kommen sahen." (Scorsese in einem Interview mit Jack Mathews).Das Publikum, zumal das amerikanische, hat stets seine Schwierigkeiten mit Scorseses Filmen gehabt und hat sie auch wieder mit diesem. Entweder Gangsterfilm oder Melodrama, beides könnte das Publikum akzeptieren, doch Scorsese verweigert sich dem Klischee des einen ebenso wie dem das anderen. Seine Helden laden nicht zur Identifikation ein; es sind die Konflikte, mit denen man sich irgendwie identifizieren kann. Aber das ist für einen Großteil des Publikums zu kompliziert, wie es auch zu kompliziert zu sein scheint, Scorseses Gedanken zu folgen, daß seine Helden "schlechte Menschen sind und es auch bleiben, dennoch aber durch einen Lernprozeß, eine Katharsis gehen". Darin sind sie sich alle verwandt, gleichgültig, ob es Travis Bickle in "Taxi Driver"
(fd 19 983), James Conway in "Good Fellas", Max Cady in "Kap der Angst"
(fd 29 409) oder Sam Rothstein in "Casino" ist. Deshalb werden sie alle auch von demselben Darsteller, Robert De Niro, gespielt. Sie zerstören nicht nur die Welt um sich herum, sondern vornehmlich sich selbst, aber der Moralist Scorsese verweigert ihnen nicht die Anteilnahme an ihrem Schicksal. Die unbestechliche Sachlichkeit, mit der die Mechanismen ihrer Lebensgeschichten beschrieben werden, läßt keinen Raum für emotionale Bekenntnisse; es ist die Genauigkeit seiner Porträts, die den Zuschauer animieren soll, hinter die Fassade zu sehen - selbst wenn es die tausendfach funkelnde Fassade der Spielerstadt Las Vegas ist. Deshalb läßt Scorsese auch die Widerwärtigkeiten nicht aus, weder die seelischen noch die handgreiflichen. Seine Helden mißbrauchen sich gegenseitig unentwegt, aber sie merken es nicht; sie tun sich Gewalt an, aber sie verstehen es nicht anders. Verbale Mißhandlung und drastische Gewalttätigkeit in Scorseses Filmen mögen für das Publikum oft nahezu unerträglich sein, aber sie besitzen einen völlig anderen Stellenwert als in den landläufigen Actionfilmen, wo sie nichts als Stimulanz zu sein pflegen. Wenn zum Schluß ein Choral aus Bachs "Matthäus-Passion" über den Bildern liegt, dann ist das weder ein Widerspruch noch bloßer Effekt, sondern es ist Ausdruck eines Mitleids, das Scorsese seinen Helden, der Gesellschaft und den Menschen schlechthin nicht versagt."Anstatt Menschen für Öl auszubomben, wäre es besser, herauszufinden, wie man es anstellen könnte, nicht so viel Öl zu verbrauchen. Wir sollten herausfinden, wie wir leben und uns beschäftigen können, indem wir in einem leeren Raum sind - ohne Bilder an der Wand, ohne Fernsehen, ohne alles... Es ist eine Kultur der Gewaltlosigkeit, die wir alle brauchen, um zu überleben". (Scorsese) Im Februar begann Scorsese seine nächste Arbeit, einen Film über den Dalai Lama.