Ein atmosphärisches Gesellschaftspanorama der letzten beiden Jahre der DDR. Der Film konzentriert sich auf eine zerrissene Leipziger Funktionärsfamilie, den Überwachungsapparat der Stasi und zwei Kirchengemeinden, Refugien in einem Meer aus Lethargie und Zynismus. Er bemüht sich um historische Wahrheit und Stimmigkeit im Detail, gerät aber mitunter in die Nähe der Kolportage. Frank Beyer montierte aus seinem zweiteiligen hervorragend besetzten Fernsehfilm eine kürzere Kinofassung.
- Ab 14.
Nikolaikirche
Drama | Deutschland 1995 | 167 (Kino 138) Minuten
Regie: Frank Beyer
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Filmdaten
- Produktionsland
- Deutschland
- Produktionsjahr
- 1995
- Produktionsfirma
- Provobis/WDR/MDR/arte/ORF
- Regie
- Frank Beyer
- Buch
- Frank Beyer · Eberhard Görner · Erich Loest
- Kamera
- Thomas Plenert
- Schnitt
- Rita Hiller
- Darsteller
- Barbara Auer (Astrid Protter) · Ulrich Matthes (Alexander Bacher) · Annemone Haase-Wolf (Marianne Bacher) · Günter Naumann (Albert Bacher) · Daniel Minetti (Harald Protter)
- Länge
- 167 (Kino 138) Minuten
- Kinostart
- -
- Fsk
- ab 6; f
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 14.
- Genre
- Drama | Literaturverfilmung
- Externe Links
- IMDb | TMDB | JustWatch
Diskussion
Als die zweiteilige Fernsehfassung der "Nikolaikirche" im Oktober 1995 uraufgeführt wurde, gab es vor allem in der Leipziger Lokalpresse unzufriedene Leserbriefe. Dies und jenes, so lauteten die Einwände, habe sich in Wirklichkeit anders zugetragen; der Film spare wichtige Details der Entwicklung in Leipzig 1988/89 aus und verdichte manche authentischen Vorkommnisse zu zeitlich und örtlich neu zusammengewürfelten, also "falschen" Szenen. Dabei hatte Frank Beyer von vornherein darauf aufmerksam gemacht, daß es ihm nicht um eine Dokumentation der unmittelbaren Vor-Wende-Zeit gehe, sondern um eine fiktive Geschichte, mit deren Hilfe eine wichtige Etappe der jüngsten deutschen Historie charakterisiert werden könne. Kein Film also, der buchhalterisch die Schritte bis zur friedlichen Revolution vom November 1989 nachstellt, sondern eine Arbeit, die die Atmosphäre jener Monate an Hand der Schicksale einer Leipziger Familie transparent werden läßt. Und die am Schluß zumindest der historischen Wahrheit Raum verschafft, daß die Veränderungen in der DDR im Mut einzelner Bürger wurzelten, die sich in einem Meer aus Lethargie und Bespitzelung zu behaupten versuchten.Eine Familienstory als Zeitgeschichte, nach dem gleichnamigen Roman von Erich Lost. Zu Beginn stirbt der Vater, ein hoher Polizeioffizier. Dann werden die Wege der Kinder skizziert - und die von zahlreichen Leuten, mit denen Astrid und Sascha zusammentreffen. Astrid, eine Leipziger Architektin, leidet unter der Verlogenheit ihrer Umgebung; die Berichte ihres Amtes, die sie bisher auch immer selbst brav mit unterzeichnet hatte, suggerieren eine blühende Stadt, aber die Realität sieht anders aus: ganze Viertel zerfallen. Astrids Mann flüchtet in den Alkohol, die Tochter Silke verbringt die Nächte bei einem Hausbesetzer, der noch dazu den Wehrdienst verweigert. Später wird das Mädchen über Prag in den Westen gehen. Sascha, Offizier der Staatssicherheit, ist von alldem angewidert. Er widmet sich bis zum Schluß der "Sache", vom Ehrgeiz besessen, seinen über den Tod hinaus präsenten Vater noch zu überflügeln. Am Ende verbarrikadiert er sich mit ein paar Genossen in der Leipziger Stasi-Zentrale. Und unter den Demonstranten, die dem Gebäude auf den Leib rücken, befinden sich auch die Schwester und der Schwager.Beyer und Loest nutzen die Figur Saschas und seines Vorgesetzten, um die Stasi "von innen" zu zeigen: als einen riesigen Apparat, dessen Rädchen erbarmungslos mahlen. Eine Maschine aus Menschen, die zwar hart scheinen wie Stahl, aber dennoch über Nervenstränge verfügen. Im Gegensatz zu früheren "Wendefilmen" und ganz ähnlich wie in Beyers letzter Kinoproduktion "Der Verdacht" (1991) ist diese Beschreibung undämonisch, frei von Hysterie und wohl auch recht realistisch. Beschönigt oder verklärt wird dabei freilich nichts. Frank Beyer, selbst jahrzehntelang bespitzelt, läßt keinen Zweifel am Urteil darüber, daß die flächendeckende Observation ein gefährlicher Irrsinn, ja ein Verbrechen war. Ein Urteil, das ihn jedoch nicht daran hindert, nach Gründen zu suchen, die manchen veranlaßt haben, sich in den Dienst des Machtkraken zu stellen: Beyer erklärt die Gegenwart von 1988/89 aus psychologischen und biografischen Umständen.Für die Kinofassung wurde "Nikolaikirche" um etwa 50 Minuten gekürzt. Der Film erzählt sich schneller, aber in dem Tempo stecken auch Gefahren. Was die Langfassung noch kaschierte, wird nun offensichtlich: viele der von Loest erfundenen Episodenfiguren bleiben Sprachrohre für bestimmte politische oder menschliche Haltungen. Das betrifft Pfarrer Reichenbork, der ein vom Braunkohlen-Tagebau bedrohtes Dorf nebst dessen Bevölkerung mit Gebeten zu verteidigen sucht, gilt aber gleichermaßen für den jungen Umwelt-Aktivisten Martin, Astrids Mann und Tochter sowie deren unangepaßte Freunde. Am extremsten jedoch trifft es auf die Gestalt des Nikolaikirchen-Pfarrers Ohlbaum zu, dem keinerlei biografischer Hintergrund zugebilligt und der nur bei seinen Predigten gezeigt wird. Manchmal trägt das Buch einfach auch zu dick auf: Warum mußte ausgerechnet in der Szene, in der eine Straße nach dem verstorbenen Polizeigeneral Bacher benannt wird, eine einsame, verhärmte Frau Blumen für ihren von einem Sowjetpanzer erdrückten Sohn an eine Hauswand in ebendieser Straße legen? Die Kolportage feiert da fröhliche Urständ - auf der Leinwand offensichtlicher als auf dem kleinen Bildschirm.Spannend ist "Nikolaikirche" immer dann, wenn Zwischentöne zu vernehmen sind. So etwa in den Gesprächen zwischen Astrid und ihrem Psychiater, der ihr rät, sich gegen alles aufzulehnen, was sie zu zerstören droht - eine Sentenz wider das Klischee, in der DDR habe sich die Psychiatrie ausschließlich der Parteiräson gebeugt. Intellektuell packend gerät Beyer die Inszenierung schizophren anmutender Vorgänge: Einmal observiert Sascha seine eigene Mutter, als diese einen früheren Geliebten trifft, der schon lange im Westen lebt. Der Sohn erfährt über Richtfunkmikrofone, daß der Vater den einstigen Rivalen um die Frau ausschaltete, indem er ihn ins Zuchthaus brachte. Sascha löscht daraufhin die mitgeschnittenen Bänder - ein Vorgang wider jede Dienstvorschrift, aber notwendig fürs innere Gleichgewicht: Das Bild des Vaters als Held, das in den Wirren der Zeit sowieso schon zu verschwimmen droht, muß vor Flecken bewahrt bleiben. Verdrängung und Selbstbetrug als fragwürdiger Schutz, im großen wie im kleinen - eine schlüssige metaphorische Sequenz. "Nikolaikirche", bis in die kleinsten Rollen vorzüglich besetzt, endet in den Oktobertagen 1989. "Wir sind das Volk", riefen damals Hunderttausende Leipziger, und die Stasi löschte vor Angst die Lichter ihrer Zentrale: Mit allem, so der General, hätten sie gerechnet, aber nicht mit Gebeten und Kerzen. Im Gedächtnis bleibt ein Film-Satz aus den Fürbitt-Gottesdiensten in der Nikolaikirche: "Herr, laß' uns neu anfangen und nie wieder damit aufhören, öffentlich und privat die Wahrheit zu sagen." Ein Aufruf zur Zivilcourage, der über die historischen Umstände hinausweist. Und doch wohl eine Utopie bleiben wird.
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