Entfesselte Helden

Literaturverfilmung | USA 1995 | 94 Minuten

Regie: Diane Keaton

Ein zwölfjähriger Junge wird kurz nach seinem Geburtstag mit der schweren Krebserkrankung seiner Mutter konfrontiert. Vom emotional verarmten Vater allein gelassen, flieht er zu seinen verrückten Onkeln, in deren chaotischer Welt er Schutz findet. Ein beachtenswertes Drama, das Krankheit und Tod konsequent aus der Sicht des Jungen schildert und das jähe Ende einer Kindheit verfolgt. Formal wie inhaltlich reich an Verweisen, scheut der Film nicht vor großer Emotionalität zurück, der sich der Zuschauer nur schwer entziehen kann. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
UNSTRUNG HEROES
Produktionsland
USA
Produktionsjahr
1995
Produktionsfirma
Hollywood Pictures
Regie
Diane Keaton
Buch
Richard LaGravenese
Kamera
Phedon Papamichael
Musik
Thomas Newman
Schnitt
Lisa Churgin
Darsteller
Andie MacDowell (Slema Lidz) · John Turturro (Sid Lidz) · Michael Richards (Danny) · Maury Chaykin (Arthur) · Nathan Watt (Steven/Franz Lidz)
Länge
94 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Literaturverfilmung
Externe Links
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Diskussion
Als Selma Lidz an Krebs stirbt, ist ihr Sohn Steven, der sich fortan Franz nennt, gerade zwölf Jahre alt. Vom jähen Ende einer amerikanischen Kindheit erzählt Diane Keaton mit einem schonungslosen Film auf der Grundlage authentischer Erlebnisse, der sich weder seiner aufwühlenden Emotionalität schämt noch der kindlichen Annäherung und Auseinandersetzung mit dem Tod verweigert. Irgendwann Anfang der 60er Jahre, irgendwo in den USA: Eine ungewöhnlich-gewöhnliche Familie mit Häuschen und Garten, zwei Kindern und netten Verwandten, die nur als versammelte Meute schwer erträglich sind. Zwischen Steven und seiner Mutter Selma existiert noch die tiefe kindliche Vertrautheit früher Jahre, vielleicht auch, weil Stevens Vater Sid für Gefühle wenig übrig hat: Der rastlose Erfinder ist ein Anhänger der reinen Wissenschaft, der er nichts weniger als die Lösung aller Weltprobleme zuschreibt. Pausenlos entwirft und konstruiert er die aberwitzigsten Apparaturen, für die Steven nicht selten als Versuchskaninchen herhalten muß: Experimente, die so akribisch mit einer Super-8-Kamera festgehalten werden, wie Sid auch den Familienalltag dokumentiert. Als Selma eines Tages plötzlich stürzt und zuerst nur für einige Tage, dann aber immer länger im Krankenhaus bleiben muß, klärt niemand die Kinder auf. Doch die Mauer aus Schweigen und Ausflüchten ist nicht von Dauer, und als Steven vom herzlosen Kindermädchen die schockierende Wahrheit erfährt, reißt er aus und sucht Zuflucht bei seinen verrückten Onkeln Arthur und Danny, die in ihrer Pensionswohnung eine skurrile Welt errichtet haben. Danny lebt in ständiger Angst vor einer faschistischen Verschwörung, während Arthur unentwegt durch die Straßen streift und alles einsammelt, was ihm in die Hände fällt.

In ihrem düsteren, bis unter die Decke mit Gerümpel und alten Zeitungen vollgestopften und gegen die Außenwelt fast hermetisch abgeriegelten Reich kriecht Steven unter. Obwohl sich Sid anfangs strikt weigert, ihn bei seinen Brüdern zu lassen, kann ihn Selma dazu überreden: Eine kleine Schatzkiste ihres Sohnes, in der er verschiedene Kleinigkeiten von ihr sammelt, hat Selma signalisiert, daß Steven begonnen hat, von ihr Abschied zu nehmen. Im Schutzraum der chaotischen Unterkunft vollzieht sich Stevens Wandlung: er wechselt seinen Namen (in phonetischer Anlehnung an Franz Liszt), paßt sich auch äußerlich seinen heruntergekommenen Onkeln an, hilft ihnen gegen die Schikanen des Hausverwalters und der Brandpolizei und entdeckt schließlich sein Interesse für die jüdische Religion, das in Thora-Studium und die Bar-Mizwa-Feier mündet. Seine schmerzhafte Vertreibung aus der Kindheit gipfelt in den Trauerfeierlichkeiten für Selma, bei denen es zwischen Vater und Sohn zur entscheidenden Auseinandersetzung kommt. Der Junge entdeckt durch Zufall, daß Sid alle Filmrollen in die Mülltonne geworfen hat: Ein verzweifelter Akt des Vaters, mit der Vernichtung der auf Zelluloid fixierten Erinnerungen auch den Schmerz zu bannen. Franz dagegen projeziert die verwackelten Bilder auf den Vorhang über dem Sarg und zwingt Sid damit, sich seinen Gefühlen zu stellen.

Ein Akt tränenreicher Trauer, dem sich auch der Zuschauer nur schwer entziehen kann. Und dies um so mehr, als es Keaton mühelos gelingt, die melodramatische Färbung im Kontext der Erzählung und nicht in den Gesichtern der Hauptfiguren zu verankern. Andie MacDowell spielt Selma mit viel Wärme und einer aus der Tiefe kommenden Lebensfreude, deren Trauer und Angst vornehmlich in der verhaltenen Leere des Blicks und gelegentlicher Momente von Abwesenheit greifbar wird. Und John Turturro deutet zwischen Hektik, Stirnrunzeln und weit aufgerissenen Augen nur dezent die Verdrängungsleistung an, die ihm sein Anti-Emotionskorsett aus nackten Zahlen und Wahrscheinlichkeitsberechnungen abverlangt. Mehr aber noch als die Leistungen der Schauspieler ist es die konsequente Beibehaltung der Sichtweise von Steven/Franz, die Keatons Film zu einer nahegehenden Katharsis macht: Es vergehen mehr als neunzig Minuten, bis aus dem Mund von Franz deutlich wird, daß seine Mutter sterben wird. An Hand seiner Figur und ihrer schrittweisen Wandlung läßt sich auch das feine Gespinst zwischen den einzelnen Mitgliedern des Lidzschen Familienkosmos entschlüsseln, die emotionalen und psychischen Korrelationen und Abhängigkeiten wie etwa die eigenwillige Symbiose von Arthur und Danny oder Sids rigorosen Positivismus, der ihn am Ende fast noch seiner Erinnerungen beraubt.

Zu den interessanten inhaltlichen Momenten dieser an Verweisen reichen Geschichte zählt sicherlich die neuerliche Thematisierung von Religion, deren funktionaler Wert eine große Rolle spielt. Sie sei eine Krücke, mit der man wenigstens laufen könne, wenn man es nötig hat, entgegnet Arthur dem wütenden Sid, als dieser die neue religiöse Praxis seines Sohnes erkennt. Eine "Krücke", deren Wahrheitswert weder bestritten noch behauptet werden braucht, weil sie zumindest für manche oder in Notzeiten unabdingbar ist. Ein Pragmatismus mit Tiefengrund sozusagen, denn die Bilder des Films lassen hier wie in allen anderen thematischen Kontexten keinen Zweifel daran, daß die zum Ausdruck gebrachten Haltungen nicht zynisch, sondern durchaus ernsthaft gemeint sind.
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