Dokumentarfilm | Deutschland 2023 | 83 Minuten

Regie: Ali Schmahl

Ein rückwärts erzähltes Porträt des Ehepaars Henri und Johannes Vogel, das sich während des Studiums kennenlernte, als Henri noch eine Frau war. In einzelnen Kapiteln werden einschlägige Themen wie „Transidentität“, „LGBTQIA+“ oder „Politik“ angeschnitten, die in persönlichen Gesprächen auf der Beziehungsebene, aber auch mit Blick auf ihre gesellschaftliche Bedeutung ausgelotet werden. Der niederschwellige Film taucht sehr nahbar in das Leben einer Trans-Person ein und lässt an deren Herausforderungen, aber auch am Alltag teilhaben, wobei auch die Rolle der Religion mitthematisiert wird, da Henri Vogel Theologie studierte und sich kirchenpolitisch engagierte. - Ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2023
Produktionsfirma
AlefCine Pict./Projectile Prod.
Regie
Ali Schmahl
Buch
Ali Schmahl
Kamera
Alexander Neumann · Ali Schmahl
Musik
Thorsten Hoppe
Schnitt
Marcel Janick Paul
Länge
83 Minuten
Kinostart
20.03.2025
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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IMDb

Dokumentarfilm über die Trans-Person Henri Vogel und ihren Mann Johannes.

Aktualisiert am
14.03.2025 - 13:19:42
Diskussion

„Privileg“ beginnt sozusagen vor dem Film. Mit kurzen Impressionen unterschiedlicher Szenarien und Orte, von denen sich die meisten in Berlin befinden. Mit Menschen, die an einer Pride- oder einer anderen Queer-Veranstaltung in Berlin teilnehmen. Mit einem jungen Mann, der sich in einem Café für Dreharbeiten in Szene setzt. Mit einer Mikro-Probe und demselben jungen Mann, der mit einem anderen Mann durchs herbstliche Berlin schlendert und am Eingang zum Tempelhofer Feld stehenbleibt.

Beide tragen Rucksack, Schirmmütze, Brille und kurze Jacke; die eine ist etwas grünlicher, die andere sticht ins Bräunliche. Aus einem der Rucksäcke ragt ein Stecken hervor. Es könnten zwei Männer auf einem Angler- oder Jagdausflug sein. Sie fallen in Deutschland mit ihrem Outfit nicht auf. Kurz nach der Titelsequenz heißt es dementsprechend, dass ein unauffällig lebendes schwules Paar mit Labrador in einer deutschen Großstadt heute gesellschaftlich weitgehend akzeptiert ist. Der Stecken im Rucksack entpuppt sich später als Drachen, den die beiden in den Himmel von Berlin steigen lassen.

Ein rückwärts erzähltes Biopic

Der kleinere der beiden Männer heißt Henri Vogel. Er wurde 1983 in Löbau im Landkreis Görlitz geboren. Im Erststudium hat er in Zittau Immobilienwirtschaft studiert, anschließend an der TU Dresden Evangelische Theologie, Literatur- und Kulturwissenschaft. Für den Masterstudiengang wechselte er an die Humboldt-Universität Berlin. Der Mann an seiner Seite ist Johannes Vogel. Die beiden lernten sich während ihrer Studienzeit kennen und heirateten 2008.

Henri, heißt es im letzten, mit „Beziehung“ überschriebenen Kapitel des Films, habe bei der Hochzeit ein traumhaftes Brautkleid mit einer fünf Meter langen Schleppe getragen. „Privileg“ ist der erste lange Dokumentarfilm von Ali Schmahl. Es ist eine Art rückwärts erzähltes Biopic über den Trans-Mann Henri Vogel und zugleich eine Homestory über ihn und seinen Mann Johannes, die zusammen mit ihrer Katze in Berlin leben.

Auf dieser „privaten“ Ebene von „Privileg“, in der Henri immer wieder betont, dass seine Aussagen nur sein persönliches Erleben wiedergeben und nicht generell für die Trans-Community stehen, finden sich sehr berührende Momente. Etwa wenn Henri und Johannes gemeinsam von Henris Coming-Out gegenüber seiner Familie erzählen und in einer kurzen Sequenz auch seine Mutter zu sehen ist. Sie sagt, dass sie schon immer gedacht habe, dass in Henri ein Junge stecke. Ihr sei das egal; er sei nach wie vor ihr Kind. Wichtig sei doch vor allem, dass er gesund sei.

Ebenfalls berührend ist Johannes’ Antwort auf Henris Frage, wie es sich denn anfühle, ihn als Mann zu berühren. Er knuddle dann einfach mit dem Körper des Menschen, mit dem er gerne zusammen sei, ohne sich Gedanken über dessen Geschlecht und Sexualität zu machen, antwortet Johannes. Eine großmütigere, gelassenere Liebeserklärung kann ein Mensch einem anderen wohl kaum machen.

Lieber ein schwules Paar als ein Trans-Paar

Ein Schwerpunkt von „Privileg“, der im direkten Gespräch zwischen Henri und Johannes verhandelt wird, ist Henris Transition und ihre Beziehung als Paar. Da kommen durchaus auch intime Themen auf. Etwa, dass Henri sich nach seiner Transition scheute, in die Sauna zu gehen. Oder dass er lieber im Herbst im See badet als im Sommer, wenn der Ort von Menschen übersät ist. Thematisiert wird auch, dass sie in der Öffentlichkeit als „schwules“ Paar gelesen werden. Das hat Johannes anfänglich irritiert. Er selbst betrachtet sich nicht als schwul; ursprünglich habe er ja auch eine Frau geheiratet. Im Laufe der Jahre aber hat sich Johannes daran gewöhnt. Er sieht das inzwischen gelassener und betrachtetet es vielleicht auch als einen Schutz. Denn im Unterschied zu unauffällig lebenden Lesben und Schwulen werden Trans-Personen häufig als störend wahrgenommen und angegriffen. Dagegen muss man angehen, sagt Henri.

Hier setzt die andere Ebene von „Privileg“ ein. Es ist eine gesellschaftspolitische Ebene, auf der Henri die Situation der LGBTQIA+-Community einzuschätzen versucht und zum politischen Engagement aufruft, auch wenn er auch hier von seinem persönlichen Erleben ausgeht. In der Begegnung mit Anastasia Biefang, der ersten Trans-Kommandeurin der Bundeswehr, diskutiert Henri etwa die Wahrnehmung und Rolle von Trans-Menschen in der Öffentlichkeit und kommt zum Schluss, dass es unbedingt mehr stolze Trans-Stimmen brauche. Gleichzeitig weist er aber auch darauf hin, dass eine Transition sehr anstrengend ist; die meisten Trans-Menschen möchten danach verständlicherweise einfach in Ruhe ihr Leben führen.

Biopolitik und die christliche Rechte

Henri selber hat sich immer wieder (kirchen-)politisch engagiert. Er ließ sich mit 23 Jahren freiwillig taufen und hat sich intensiv mit der evangelischen Kirche auseinandergesetzt. Seine Masterarbeit titelte „Theologies of Creation and Biopolitical Discourse in the Christian New Right“, seine nicht beendete Doktorarbeit trug den Arbeitstitel „Gender and Orders of Creation. A Comparison between Germany and South Africa“. Sein persönliches Fazit über die evangelische Kirche in Deutschland fällt ernüchternd aus. Es lautet: Religion funktioniere wunderbar, wenn man sein ganzes Leben lang klar heterosexuell Mann oder Frau sei, eine Familie gründe und Kinder bekomme. Sonst jedoch nicht.

„Privileg“ ist in Kapitel unterteilt. Diese tragen Überschriften wie „LGBTQIA+“, „Politik“, „Religion“, „Transidentität“ und „Beziehung“; die einzelnen Begriffe werden zum Einstieg in die jeweiligen Kapitel kurz erläutert. Das macht den Film niederschwellig zugänglich, verpasst ihm aber auch den Touch eines Lehrfilms. Etwas störend wirkt auch, dass Henri eine Tendenz zum Schwadronieren hat und Ali Schmahl ihn dabei nicht aufhält. Abgesehen davon ist Henri – wie auch Johannes – sehr sympathisch. Den etwas seltsam anmutenden Titel verdankt der Film einem Satz von Henri: „Trans zu sein bedeutet, diskriminiert zu werden, erniedrigt und ferngesteuert. Andererseits bedeutet es, mich selbst zu erfinden, mir selbst einen neuen Namen zu geben und zu sein, wer ich bin. Das ist ein Privileg.“

Henri Vogel, ist am Schluss des Films zu lesen, wurde im März 2024 durch einen tragischen Unfall aus dem Leben gerissen. Der Film ist sein Vermächtnis.

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