Erst sind da nur die Geräusche. Das laute, immer schneller werdende Atmen zweier Menschen, Küsse, das Aufeinanderprallen nackter Körper, das Stöhnen. Zwei Jugendliche lieben sich auf dem Boden einer leerstehenden, ziemlich vergammelten Wohnung. Vera (Luciana Grasso) ist nicht dabei. Vera „vermietet“ die Wohnung, die ihre Mutter als Maklerin verwaltet, heimlich für solche Rendezvous. Klopapier und Seife sind im Bad, es gibt einen Schlafsack als Unterlage, Rauchen ist verboten und für 500 Pesos bleibt den Paaren ein Zeitfenster von zwei Stunden. Unterdessen wartet Vera, vertreibt sich die Zeit und hört Musik. Aber das Vermieten der Wohnung als Liebesnest wird zunehmend für Vera mehr als nur ein Geschäft. Einerseits ekelt sie sich zwar, wenn sie die Hinterlassenschaften ihrer Kunden wegräumen muss. Aber andererseits empfindet sie zunehmend auch Neugier und Lust, wenn sie den zerwühlten Schlafsack sieht oder zurückgelassene Haarbänder sanft berührt. Die Vorstellung erregt sie. Und immer häufiger beginnt sie, bei ihren Vermietungen in der Nähe der Wohnung zu bleiben, presst ihr Ohr an die Tür – und hört zu.
Die Lust im Kopf
Es geht also anfangs nicht so sehr um Veras Genießen und ihre Lust. Es geht um Vera und die Lust der anderen. Dass diese Lust freilich immer mehr gekoppelt ist an Veras Empfindungen und ihr Verlangen weckt, davon erzählt der Coming-of-Age-Film „Veras Verlangen“ von Romina Tamburello und Federico Actis. Er folgt der sechzehnjährigen Teenagerin bei ihrer Entdeckungsreise, ganz ohne über sie zu urteilen. Er nimmt ihre Neugier ernst und verlässt sich dabei nur wenig auf Worte. In Veras Gesicht spiegeln sich ihre Gefühle: das Interesse, manchmal auch die Scham, die Belustigung, die Erregung, die Unsicherheit.
Sex ist durchaus zu sehen, häufig sogar, aber vor allem geht es in „Veras Verlangen“ um das Zuhören und die Lust im Kopf. Der Film nimmt sich dabei gar nicht allzu ernst. Er behandelt Veras Auseinandersetzung mit ihrer Lust und Erregung vielmehr auch augenzwinkernd in der Art, wie er Szenen aneinanderreiht, Sexszenen abrupt mit raumfüllender, lauter Musik oder Veras Blicken kontrastiert oder Stöhnen in den Score einfließen und omnipräsent wirken lässt. Ohnehin kann Vera ihrer Neugier kaum entkommen. Wenn ein sich küssendes Paar auf der Straße gezeigt wird, steht Vera im Hintergrund. Sie beobachtet und belauscht – so lange, bis sie nicht länger nur außen stehen, sondern dabei sein will.
Ungezwungene „Sex Positivity“
Starre sexuelle Orientierungen gibt es nicht in „Veras Verlangen“. Vera beobachtet die Lust rund um sich herum, ganz gleich, ob queer oder straight. Sie selbst weiß noch nicht, wohin die Reise geht. In seiner ungezwungenen „Sex Positivity“ ähnelt der Film damit der Serie „Sex Education“, die ähnlich unverkrampft, wenngleich zunehmend mit aufklärerischem Ansatz über sexuelle Reifungsprozesse erzählt hat.
Mit Nadia und Martin, die sich eines Mittags bei Vera in der Wohnung treffen, freundet sie sich schließlich an. Sie geht mit ihnen auf eine Party, betrinkt sich und ist zum ersten Mal Teil einer Gruppe. Daneben spielt aber auch Veras Beziehung zu ihrer Mutter eine wichtige Rolle. Das Begehren betrifft nicht nur die jungen Menschen im Film, sondern auch die Erwachsenen. Auch die Bedürfnisse der Mutter kommen zum Ausdruck – manchmal auch in einer Form, die Vera schockiert. Dass die Sache mit dem Sex und den Beziehungen schwierig sein kann, ahnt Vera da schon. Bemerkenswert aber ist vor allem, wie schön das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter dargestellt wird. Da gibt es Konflikte, Anschuldigungen, Versuche, zu belehren – und dann doch die Erkenntnis, dass jede ihren eigenen Weg gehen muss und eigentlich nur eins zählt: was sie glücklich macht.